© 2025 Lisa Widerek · Wenn Empathie nicht aussieht, wie du sie erwartest.

Die stille Missverstandene
Es gibt Momente, da blicke ich in die Gesichter anderer Menschen und sehe etwas, das mich jedes Mal trifft: Irritation. Manchmal ist es auch leiser Zweifel oder – am schlimmsten – Enttäuschung. Es sind diese Momente, in denen ich nichts sage. In denen ich scheinbar unberührt wirke, vielleicht sogar kalt. Dabei tobt in mir ein Sturm.
Ich habe lange geglaubt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Dass ich zu gefühllos bin. Zu verkopft. Zu distanziert. Dabei stimmt das nicht. Ich bin nicht kalt – ich bin komplex.
Wenn Empathie sich nicht anschmiegt, sondern analysiert
Viele Menschen erwarten, dass Empathie weich ist. Leise. Warm. Sofort verfügbar. Dass jemand einen Blick auf dich wirft, dich umarmt und sagt: „Ich weiß, wie du dich fühlst.“ Aber meine Empathie funktioniert anders. Sie braucht Zeit. Sie braucht Informationen. Sie beobachtet, analysiert, rekonstruiert.
Manche würden sagen: Das ist keine echte Empathie. Doch das stimmt nicht. Es ist eine kognitive Empathie, keine emotionale Spiegelung. Ich fühle nicht automatisch mit, wenn jemand weint – aber ich verstehe, warum jemand weint. Ich erkenne Muster. Ich spüre Widersprüche. Und ich kann tief nachempfinden, wenn ich genug Informationen habe, um zu verstehen. Das macht meine Empathie oft sogar tiefer – aber eben nicht sofort sichtbar.
Alexithymie, PDA und logische Empathie – ein selten erklärter Zusammenhang
Was viele nicht wissen: Menschen mit Alexithymie (also Schwierigkeiten, eigene oder fremde Gefühle klar zu benennen) können trotzdem über eine sehr hohe Form von Empathie verfügen. Nur eben nicht die, die sofort körperlich mitfühlt. Sondern eine, die bewusst erlernt, tief einsteigt, Fragen stellt. Bei Menschen mit Autismus, ADHS oder PDA ist das häufig der Fall.
Ich selbst falle genau in diese Kategorie. In mir arbeitet alles – aber nach außen wirke ich ruhig, logisch, analytisch. Das wird oft mit Kälte verwechselt. Und macht es mir schwer, in emotionalen Momenten den richtigen Ton zu treffen. Ich muss oft ringen um Worte. Wenn ich nicht reagiere, liegt es nicht an Gleichgültigkeit – sondern daran, dass mein System noch dabei ist, alle Puzzleteile zusammenzusetzen.
Wenn Fachleute es nicht verstehen – und man selbst beginnt zu zweifeln
Besonders bitter wird es, wenn selbst geschulte Fachpersonen diesen Unterschied nicht erkennen. Wenn Diplom-Psycholog*innen einem unterstellen, man habe ein Empathieproblem – einfach, weil man in emotionalen Situationen anders reagiert als erwartet. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch mit einer Fachkraft, die mir, nach vielen sensiblen Erklärungen, schlicht vorwarf, ich hätte kein Mitgefühl. Dabei hatte ich mich nur nicht sofort, nicht im klassischen Muster geäußert.
Solche Erfahrungen machen etwas mit einem. Sie brennen sich ein. Und irgendwann stellt man sich selbst infrage. Bin ich vielleicht wirklich nicht fähig zu fühlen? Bin ich falsch?
Nein. Ich funktioniere nur anders.
Wenn andere neurodivergente Menschen trotzdem nicht passen
Eine weitere Schwierigkeit: Selbst unter neurodivergenten Menschen ist Empathie nicht gleich. Ich habe gelernt: Nur weil jemand auch ADHS oder Autismus hat, heißt das noch lange nicht, dass man sich gegenseitig versteht. Unterschiedliche Erziehung, Masking-Stile, Traumabiografien und Bewältigungsstrategien führen zu völlig verschiedenen Erlebenswelten.
Manche Menschen versuchen, durch Anpassung nicht aufzufallen – andere, wie ich, durch Authentizität nicht unterzugehen. Das kann zu Spannungen führen. Und manchmal zu einem tiefen Gefühl von Einsamkeit. Denn wenn sogar die „eigenen Leute“ dich nicht ganz verstehen, wo gehörst du dann hin?
Beziehungen: Das Problem mit dem Rettungsseil
Ich habe oft das Gefühl, in emotionalen Krisen zu ertrinken – und das ausgerechnet der Mensch, den ich liebe, am Ufer steht, mit dem Rettungsseil in der Hand, aber nicht wirft. Nicht, weil er nicht will. Sondern weil er sich überfordert fühlt. Oder weil meine Not für ihn ganz anders aussieht, als sie sich für mich anfühlt. Und ich weiß: Ich sehe oft genauso aus. Ich stehe oft da, mit meinem Seil in der Hand – zu analytisch, zu überlegt, zu langsam. Während jemand anderes schon untergeht.
Das tut weh. Aber es lässt sich lernen.
Strategien: Wie man Empathie sichtbar macht – ohne sich zu verbiegen
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Erkläre deine Empathie. Sag ruhig: „Ich wirke gerade ruhig, aber innerlich beschäftigt mich das sehr.“
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Nutze Sprache bewusst. Wenn du nicht weißt, was du fühlst, sag es. Das ist keine Schwäche.
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Frage nach. Echte Empathie zeigt sich auch durch Interesse: „Wie geht es dir mit dieser Situation?“
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Sei nicht zu hart zu dir. Nur weil du nicht weinst, heißt das nicht, dass du nicht fühlst.
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Finde Menschen, die deinen Stil verstehen. Sie müssen nicht gleich sein – aber offen.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir eine Welt, in der Empathie nicht nur in einem Kostüm auftritt. In der man Gefühle nicht beweisen muss. In der auch die leisen, logischen, späten Reaktionen gesehen werden. Ich wünsche mir, dass Fachpersonen sich weiterbilden, wenn sie etwas nicht einordnen können. Und dass wir alle ein bisschen neugieriger werden auf das, was wir vielleicht einfach noch nicht verstehen – statt es gleich abzulehnen.
Denn ich bin nicht kalt. Ich bin komplex.
Herzlich, FliWi
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