Wenn du nicht weißt, ob du schreiben sollst – über echte Impulse und leise Illusionen

Veröffentlicht am 22. Juni 2025 um 10:00

© 2025 Lisa Widerek · Manchmal drängt etwas in uns nach außen – aber nicht alles, was laut ist, will gesagt werden. Dieser Text hilft dir zu unterscheiden, was echt ist – und was nur heilt, wenn es gehört wird.

Zwischen Gefühl und Gedanke

Es gibt diese Momente, in denen dein Herz etwas sagen will: „Fahr vorsichtig.“ „Ich denk an dich.“ „Ich vermisse dich.“

Und du weißt nicht:
Will ich das wirklich sagen – oder will ich nur gehört werden?

Diese Unsicherheit frisst einen auf.
Zwischen Stolz und Sehnsucht.
Zwischen Selbstachtung und dem Bedürfnis, einfach kurz wieder Nähe zu spüren.

Aber genau in dieser Unsicherheit liegt eine Wahrheit, die ich lernen musste:
Echte Impulse werden mit der Zeit lauter.
Falsche Impulse werden leiser.


Wenn’s drängt, aber du nicht weißt, wohin

Es fängt meistens ganz leise an – ein Gedanke, ein Impuls. Ein Satz, der sich im Inneren aufdrängt:
„Sag ihm, dass du an ihn denkst.“

Plötzlich ist da diese Dringlichkeit. Wie ein innerer Ruf. Fast wie eine Aufgabe.

Doch manchmal ist dieses Gefühl nicht die Wahrheit.
Manchmal ist es ein Echo aus Angst, aus Mangel oder aus dem Wunsch, wieder Kontrolle zu bekommen. Nähe herzustellen, wo gerade Leere ist.


Schreiben als Rettungsanker – oder als Rückfall?

Aus neurologischer Sicht lässt sich dieses Spannungsfeld gut erklären: Unser Gehirn, vor allem bei neurodivergenten Menschen, reagiert auf emotionale Unsicherheit oft mit einem ausgeprägten Drang zur Selbstregulation. Dabei spielt das limbische System – insbesondere die Amygdala – eine Schlüsselrolle. Wenn soziale Unsicherheit oder der Verlust von Verbindung als Gefahr interpretiert wird, aktiviert sich das Stresssystem. Das führt zu innerem Alarm.

Für Menschen mit ADHS oder einem PDA-Profil (Pathological Demand Avoidance) ist dieser Alarm besonders schwer zu ignorieren. Das Bedürfnis, sofort zu handeln, zu schreiben, sich zu vergewissern, ist kein "schräger Charakterzug", sondern ein neurobiologisch erklärbarer Regulationsmechanismus. Es ist ein Versuch, die Amygdala zu beruhigen – durch Nähe, Reaktion, Resonanz.

Auch der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle und langfristiges Denken zuständig ist, arbeitet bei Neurodivergenz oft anders. Der Zugriff auf rationale Abwägung wird in Stressmomenten erschwert. Es entsteht das Gefühl: "Wenn ich jetzt nicht schreibe, zerspringe ich."

Diese Zusammenhänge werden auch in der Fachliteratur bestätigt:

  • Laut Dr. Thomas Brown, einem renommierten ADHS-Forscher, führen emotionale Reize bei Betroffenen häufig zu impulsivem Verhalten, da das exekutive System in Stresssituationen eingeschränkt arbeitet (Brown, 2009).

  • Studien von Tony Attwood und anderen zeigen, dass bei Autismus (inkl. PDA) eine besonders hohe Sensibilität für soziale Ablehnung und Beziehungssicherheit besteht – oft begleitet von einem ausgeprägten Bedürfnis nach Autonomie bei gleichzeitigem Wunsch nach Verbindung.

  • Die sogenannte Rejection Sensitivity (RSD) ist laut Forschung von Dr. William Dodson ein zentrales emotionales Merkmal bei ADHS, das zu einer erhöhten Reaktivität auf zwischenmenschliche Unsicherheit führt.

Viele von uns – gerade neurodivergente Menschen mit einem PDA-Profil – erleben genau hier ein Dilemma:
Wir wollen Verbindung, aber sie darf sich nicht anfühlen wie Zwang. Wir sehnen uns nach Reaktion, aber hassen es, zu betteln.

Ein kurzer Text, eine Sprachnachricht, ein Meme, das „nur so“ geschickt wird – es ist oft nicht nur Nähe, die wir suchen. Es ist Sicherheit. Kontrolle. Selbstregulation.

Aber: Wenn der Impuls aus einem Loch kommt, wird er nicht mit Antwort gefüllt. Sondern mit noch mehr Unsicherheit.


Offene Tabs im Gefühlssystem

Gefühle, die wir nicht ausdrücken oder einordnen, verschwinden nicht einfach. Besonders neurodivergente Menschen erleben oft, dass Emotionen wie offene Browser-Tabs weiterlaufen. Unverarbeitete Impulse bleiben aktiv im emotionalen Arbeitsgedächtnis – einem System, das ähnlich wie das kognitive Kurzzeitgedächtnis funktioniert, aber Gefühle speichert. Diese "offenen Tabs" kosten Energie, Fokus, Ruhe. Sie drängen zur Handlung, nicht weil sie dringend sind – sondern weil sie unbeantwortet bleiben.


Perspektivwechsel: Wenn du Empfänger wärst …

Was würde passieren, wenn du die Nachricht, die du gerade senden willst, selbst bekämst? Würde sie dir guttun – oder würdest du spüren, dass sie mehr mit dem Absender zu tun hat als mit dir?

"Ich denk an dich." – klingt liebevoll. Aber wenn sie nur kommt, weil der andere gerade Leere spürt?

"Ich vermisse dich." – ehrlich. Doch wenn sie nur geschrieben wird, um eine Reaktion zu erzwingen?

Manchmal hilft es, den Impuls durch diese Brille zu betrachten: Würde ich ihn verschicken, wenn ich wüsste, dass keine Antwort kommt?


Was ich schreiben will – und was ich mir eigentlich wünsche

Impuls-Nachricht Eigentliches Bedürfnis „Ich vermisse dich.“ Nähe, Sicherheit, gesehen werden „Fahr vorsichtig.“ Verbindung, Fürsorge zeigen „Antworte bitte.“ Beruhigung, Kontrolle, Rückhalt „Alles okay bei dir?“ Resonanz, emotionaler Kontakt

Diese Tabelle ist keine Kritik – sie ist ein Schlüssel. Zu erkennen, was wir wirklich brauchen, hilft uns zu entscheiden, ob wir es mitteilen – oder liebevoll selbst halten können.


Bindung, Trauma und das Nervensystem

Wenn Nicht-Antwort dich aus der Bahn wirft, bist du nicht überempfindlich. Du bist geprägt.

Viele neurodivergente Menschen haben Bindungsverletzungen erlebt – durch emotionale Unerreichbarkeit, unklare Rückmeldungen oder inkonsistente Nähe. Das Nervensystem interpretiert Schweigen dann nicht als neutral, sondern als Bedrohung.

Laut der Polyvagal-Theorie (Stephen Porges) fühlen wir uns sicher, wenn wir Resonanz erleben. Bleibt sie aus, schaltet unser System in Alarm – mit Flucht-, Kampf- oder Freeze-Reaktionen. Deshalb fühlt sich Nicht-Antwort oft nicht wie Warten an, sondern wie Untergehen.

Diese Mechanismen zu verstehen, ist kein Freifahrtschein. Aber es ist ein Kompass. Du darfst lernen, dich darin zu orientieren – und andere dürfen erkennen, dass deine Reaktion nicht willkürlich ist.


Die leise Ausdauer echter Impulse

Was wirklich aus dir kommt, bleibt.
Es klopft wieder an. Vielleicht später. Vielleicht leiser.
Aber es bleibt.

Echte Impulse verschwinden nicht, wenn du dich beruhigst.
Sie bleiben bestehen, auch wenn die Panik weg ist.
Auch wenn du geschlafen hast, gegessen hast oder dich abgelenkt hast.

Sie tragen keinen Lärm in sich – sondern Klarheit.


Falsche Impulse schreien, aber sie flüstern nicht

Wenn du aus der Angst schreibst, brauchst du oft sofortige Antwort.
Du wartest. Du beobachtest. Du wirst unruhig.
Und wenn nichts kommt, willst du noch mal schreiben – oder bereust es.

Das ist kein echter Ausdruck. Das ist emotionale Kompensation.
Und das darf da sein – aber es muss dich nicht steuern.


Zeit ist kein Spiel – sie ist ein Spiegel

Manchmal ist der beste Ausdruck das Warten.
Nicht als Spiel, nicht als Taktik, sondern als Raum für Klarheit.

Was heute ein Impuls ist, darf morgen eine Entscheidung werden.
Und was sich morgen nicht mehr meldet, war vielleicht nur die Reaktion auf eine innere Leere.

Warten heißt nicht, dass dir etwas egal ist.
Warten kann bedeuten, dass du dich achtest.
Dass du wissen willst, ob es wirklich aus dir kommt – oder ob du dich nur retten wolltest.


Du darfst fühlen. Du musst nicht handeln.

Manchmal ist es nicht die Nachricht, die fehlt – sondern dein eigener Trost.
Du bist nicht schwach, wenn du fühlst. Du bist neurologisch verkabelt, um Verbindung zu suchen.
Aber du darfst lernen, deiner eigenen Verbindung zuerst zu vertrauen.

Nicht jede innere Regung ist ein Auftrag.
Nicht jedes Gefühl muss verschriftlicht werden.
Und nicht jede Sehnsucht muss verschickt werden.

Aber wenn du morgen noch genauso denkst – vielleicht leiser, vielleicht klarer – dann ist es dein Impuls.
Und dann darfst du schreiben. Aber nicht für ihn. Nicht für sie.

Für dich.


Hast du dich wiedererkannt? Welche Impulse bleiben – und welche verblassen? Vielleicht hilft dir dieser Text, deinen inneren Spiegel klarer zu sehen. Wenn du magst, teile ihn mit jemandem, der gerade auch zwischen Herz und Hirn schwankt.

Herzlich,

FliWi


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