Schule neu denken – wenn Vielfalt kein Störfaktor ist

Veröffentlicht am 27. Juni 2025 um 18:00

© 2025 Lisa Widerek · Was wäre, wenn Schule nicht normt, sondern sieht? – Schule für echte Kinder, nicht für perfekte Schablonen. Wenn ein Kind nicht daran gemessen wird, wie still es sitzt, sondern wie hell es denkt?

Nicht defizitär, sondern divers: Schule neu gedacht


Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Lehrerin, das mich tief berührt hat. Mein Sohn, neurodivergent, durfte seine Deutsch-Lernzielkontrolle mit dem Tablet schreiben – und hat eine Eins minus geschafft. Die Lehrerin sagte: „Solange er nicht mit der Hand schreiben muss, ist er richtig gut.“ Ich musste schlucken. Nicht, weil es traurig war, sondern weil es so deutlich zeigte, was möglich ist, wenn man nicht am Defizit misst, sondern am Potenzial.

Es war ein Moment, in dem ich fast weinen musste – vor Erleichterung, aber auch vor Wut. Denn ich hatte seit Monaten darum gebeten, dass mein Kind mit einem Tablet schreiben darf. Immer wieder hatte ich erklärt, warum das wichtig ist. Warum er unter Druck blockiert. Warum das handschriftliche Schreiben für ihn keine Frage des Wollens, sondern des neurologischen Könnens ist.

Erst mit der neuen Klassenlehrerin kam Bewegung in die Sache. Sie hörte wirklich zu. Sie las sich ein, stellte Fragen – und beschloss, den gesamten Unterrichtsstoff für mein Kind zu digitalisieren. Ein riesiger Aufwand. Aber ein Akt echter Teilhabe. Ohne das laufende AoSF-Verfahren (Amtliches Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs) wäre das kaum möglich gewesen.

Hier gilt: Eine Diagnose ist zwar keine Pflichtvoraussetzung, aber sie hilft oft dabei, dass Bedarfe ernst genommen und Ressourcen schneller zur Verfügung gestellt werden – besonders bei unsichtbaren Behinderungen wie Autismus oder ADHS. So können Schulen zusätzliche Mittel und personelle Ressourcen beantragen, um gezielte Förderung überhaupt zu ermöglichen.

So bitter es klingt: Manchmal braucht es einen Stempel auf dem Papier, damit Kinder Unterstützung bekommen. Und so sehr ich mir wünsche, dass das irgendwann anders ist – so dankbar bin ich, wenn einzelne Menschen innerhalb des Systems trotzdem schon jetzt mutig vorangehen.

Gleichzeitig sagte die Lehrerin auch: „Grundschulen in Deutschland sind auf das Thema Neurodiversität nicht vorbereitet.“ Und das ist die bittere Wahrheit. Nicht, weil Lehrkräfte nicht wollen – sondern weil das System sie allein lässt.

 


Das AoSF-Verfahren – Fluch oder Hebel?

 

Ich hatte anfangs gezögert, das Amtliche Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs (AoSF‑Verfahren) zu beantragen. Ich fürchtete, dass ein solcher Schritt möglicherweise einen Schulwechsel bedeuten könnte – und hatte gehört, Eltern würden damit faktisch die Verantwortung abgeben. In meinem Kopf liefen Bilder von Stempel-Schulen, Stigma und Kontrollverlust ab.

Tatsächlich kann so ein Gesprächs‑ und Beobachtungsverfahren nach § 19 SchulG NRW (genau genommen § 2 AO‑SF) in besonderen Fällen auch ohne Eltern‑Einwilligung initiiert werden – etwa, wenn die Lehrkräfte den Verdacht auf Förderbedarf haben. Meist erfolgt der Antrag jedoch durch uns Eltern – spätestens bei der Anmeldung oder in der Grundschulzeit (§ 11 AO‑SF). Wichtig zu wissen: Eine Diagnose ist keine Pflicht – aber sie ermöglicht, dass der Bedarf konkret benannt und in ein formelles Gutachten mit Zuweisung von Fördermitteln und Ressourcen überführt wird.

Das Verfahren ist umfangreich: Beobachtungen im Unterricht, Tests durch eine sonderpädagogische Fachkraft und eine Lehrkraft der Regelschule sowie eine schulärztliche Untersuchung. Dann folgt ein Elterngespräch und schließlich ein schriftlicher Bescheid der Behörde – mit Förderempfehlung, Förderschwerpunkten und je nach Bundesland der Entscheidung über Regelschule oder Förderschule.

Häufig kursiert die Angst, so ein Verfahren führe automatisch zu einer Ausgrenzung oder zum „Sonderschul‑Label“. Doch das ist ein Trugschluss: In NRW und anderen Bundesländern wurde 2014/15 rechtsstaatlich verankert, dass Förderort und Förderbedarf voneinander entkoppelt sind – das Kind kann im inklusiven Unterricht bleiben, auch bei Förderbedarf. Im Gegenteil: Ohne diesen Schritt gibt es kaum rechtliche Grundlage, um spezielle Förderung zu erhalten – zum Beispiel eine digitale Ausstattung, Unterrichtsentlastung, Nachteilsausgleich oder zusätzliche Unterstützungspersonen.

Selbst bei kritischen Eltern, die – wie ich – fürchten, ihre Verantwortung abzugeben, lohnt sich ein genauer Blick: Wir behalten das Recht auf Einsicht, auf Gespräche und auf Ablehnung der Schulform – und wir können gegen jeden Bescheid gerichtlich vorgehen. Das Verfahren wird jährlich überprüft (§ 17 AO‑SF), wodurch wir in engem Austausch mit der Schule bleiben können.

Mein Fazit: Ja, das AoSF-Verfahren kann sich schwer anfühlen – ich habe mit Schuld, Scham und Angst vor Veränderung gerungen. Aber es war auch der Türöffner für digitale Hilfen, individuelle Förderung und Ressourcen, ohne die mein Sohn heute vielleicht weiter blockieren würde. Letztlich ist es nicht die Aufgabe von Eltern, das System zu verstehen – sondern das System, sich nach den Kindern zu richten.

 


Was bedeutet "neurodiversitätssensible Schule"?


Neurodiversität bedeutet die natürliche Vielfalt neurologischer Veranlagungen. Dazu zählen unter anderem Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Hochsensibilität, aber auch Traumaerfahrungen und Hochbegabung.

Eine neurodiversitätssensible Schule erkennt diese Vielfalt an – und schafft Rahmenbedingungen, in denen Unterschiede nicht nivelliert, sondern respektiert und unterstützt werden. Es geht nicht darum, Kinder „an das System“ anzupassen – sondern das System so flexibel zu gestalten, dass es menschlicher wird.

Das Ziel ist nicht, alle Kinder zur gleichen Leistung im gleichen Moment zu bringen, sondern jedem Kind zu ermöglichen, seine Potenziale entfalten zu können.

Diese Haltung geht weit über reine Inklusion hinaus. Sie bedeutet nicht nur, alle mitzunehmen – sondern aktiv Bedingungen zu schaffen, die unterschiedliche Startpunkte und Bedarfe anerkennen. Neurodivergente Kinder lernen oft anders – und genau darin liegt ihr Potenzial. Was für einige wie eine Schwäche erscheint, ist für andere eine besondere Stärke: ungewöhnliche Denkwege, tiefe Empathie, hohe Detailwahrnehmung oder kreative Problemlösungen.

 


Der Ist-Zustand: Schule als Normsystem


Aktuell erleben viele neurodivergente Kinder Schule als einen Ort permanenter Überforderung. Leistung wird standardisiert gemessen. Anpassung ist Voraussetzung für Teilhabe. Wer nicht stillsitzen, sich mündlich melden oder konzentriert schreiben kann, fällt durch das Raster. Dabei werden wichtige Kompetenzen wie kreative Lösungsfindung, emotionale Intelligenz oder vernetztes Denken oft übersehen – weil sie schwerer messbar sind.

Lehrkräfte sind am Limit. Klassen sind zu groß, der Lehrplan zu eng, die Erwartungen zu starr. Ressourcen fehlen, und selbst engagierte Pädagog*innen geraten an ihre Grenzen. Die Ausbildung zu neurodiversen Profilen ist meist lückenhaft – und viele Lehrkräfte fühlen sich mit komplexen Verhaltensweisen allein gelassen. Zeit für individuelle Gespräche? Meist ein Luxus.

Hinzu kommt: Das System fördert vor allem Kinder, die leise funktionieren. Wer auffällt, wird schnell pathologisiert. Dabei bräuchte es gerade hier mehr Spielraum, mehr Verständnis, mehr Alternativen.

Die Folge: Kinder mit besonderen Bedürfnissen gelten als schwierig, obwohl sie schlicht unter nicht passenden Bedingungen funktionieren sollen.

Dabei gibt es sie längst – die Konzepte, die zeigen: Es geht auch anders. Schulen, in denen Vielfalt nicht als Störung, sondern als Chance gesehen wird.

 


Meine Erfahrung als Schulbegleiterin

 

Ich durfte einmal einen Jungen an einer Realschule begleiten – ein Kind mit Autismus und vermutlich ADS. In seinen Interessensgebieten – insbesondere Feuerwehr und Technik – war er ein Genie. Sobald er Lernstoff mit seinen Hobbys verknüpfen konnte, blühte er auf.

Was viele als „Verweigerung“ oder „Trotz“ deuteten, war bei ihm oft der Ausdruck eines inneren Überlebenskampfs. Wenn er im Unterricht malen durfte, arbeitete er konzentrierter als die meisten. Wurde ihm das verwehrt, kam nichts mehr. Er brauchte keine Belohnung – er brauchte Verständnis.

Er wollte nicht vorne sitzen, obwohl das empfohlen wurde. Zu viele Menschen im Rücken waren für ihn unangenehm. Das war kein Trotz, sondern ein Bedürfnis nach Sicherheit.

Oft war einfach „die Luft raus“. Dann verließen wir für fünf Minuten den Schulhof, atmeten durch, sammelten uns. Und er kam zurück – präsent, reguliert, arbeitsfähig. Das Handy war dabei sein wichtigstes Werkzeug. Scrollen zur Beruhigung – fünf Minuten Reizreduktion gegen 30 Minuten konzentriertes Arbeiten. In der Schule war das verboten. Aber ich fand Wege, diese Regel im Einzelfall zu hinterfragen – nicht aus Trotz, sondern aus Bedarfslogik.

Es gab keinen Rückzugsraum. Also schufen wir uns unseren eigenen. Auch das war Regulation – pragmatisch, respektvoll, wirksam.

Und genau hier zeigte sich: Eine gute Schulbegleitung ist Gold wert.

Ich konnte für ihn sprechen, wo er keine Worte fand. Ich konnte erklären, wo er sich sonst überwinden müsste. Ich konnte bei Lehrkräften, beim Direktor, bei der Schulverwaltung vermitteln – weil ich ihn verstanden habe.

Ich hatte dabei das Glück, selbst betroffen zu sein. Neurodivergenz war für mich kein theoretisches Konzept, sondern gelebte Realität. Dadurch konnte ich nicht nur begleiten, sondern übersetzen – zwischen Kind und System. Zwischen Bedürfnis und Struktur.

Seine Mutter hatte Jahre lang um gute Schulbegleitung gekämpft. Immer wieder waren die Helfer unzuverlässig, überfordert oder fachlich unpassend. Als ich kam, war es das erste Mal, dass sie sich wirklich unterstützt fühlte.

Leider musste ich diesen Job aufgeben – nach meinem Motorradunfall war ich zu lange außer Gefecht. Aber sie hat sich oft gewünscht, dass ich zurückkomme. Und ich glaube, auch er.

Denn manchmal reicht es, wenn ein einziger Mensch im System wirklich zuhört.

 


Wie bekommt man eine Schulbegleitung?

 

1. Bedarf feststellen
Zuerst muss ein konkreter Unterstützungsbedarf vorliegen, z. B. aufgrund von:

  • einer (drohenden) seelischen Behinderung (z. B. ADHS, Autismus, Trauma) – § 35a SGB VIII

  • oder einer körperlichen/geistigen Behinderung – § 53 SGB XII

2. Antrag stellen
Je nach Art der Behinderung gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten:

  • Jugendamt → bei seelischer Behinderung (z. B. ADHS, Autismus) nach § 35a SGB VIII

  • Sozialamt → bei körperlicher oder geistiger Behinderung nach § 53 SGB XII

Der Antrag wird von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten gestellt.
Du brauchst dafür:

  • ein ärztliches oder psychologisches Gutachten (z. B. von einem Kinderpsychiater oder Diagnostikzentrum)

  • eine pädagogische Stellungnahme** der Schule** (Lehrkräfte schildern, wo Unterstützungsbedarf besteht)

  • ggf. ergänzende Berichte (z. B. Therapieprotokolle, Entwicklungsberichte)

3. Hilfeplangespräch oder Teilhabekonferenz
Das Jugend- oder Sozialamt lädt zu einem Gespräch ein, bei dem gemeinsam geklärt wird:

  • Welche Art von Unterstützung wird benötigt?

  • Wie viele Stunden pro Woche?

  • Für welche Aufgaben (z. B. Strukturhilfe, Pausenbegleitung, Kommunikation)?

4. Auswahl der Schulbegleitung

  • Entweder stellt das Amt eine eigene Fachkraft (über einen Träger)

  • Oder: Die Eltern suchen selbst eine geeignete Person (häufig als „Selbstbeschaffung“ möglich)

  • Manchmal darf auch eine vertrauter Begleiter*in mit entsprechender Eignung vorgeschlagen werden

5. Start und Begleitung
Die Schulbegleitung wird nach Bewilligung durch das Amt finanziert.
Sie unterstützt das Kind im schulischen Alltag, aber sie ist nicht für Fachförderung zuständig, sondern für Teilhabe.

 


Was müsste sich ändern?

 

  • Mehr Individualisierung statt Gleichschritt: Lernen sollte sich am Kind orientieren, nicht am Lehrplan. Manche brauchen mehr Zeit, andere mehr Herausforderung. Starre Jahrgangsgrenzen helfen selten weiter.

  • Weniger Fokus auf Handschrift, mehr auf Inhalte: Nicht jeder muss schön schreiben, um klug zu denken. Inhaltliche Tiefe und kreative Lösungswege zählen mehr als Schönschrift oder Ordnung im Heft.

  • Technische Hilfsmittel als Standard: Tablets, Diktierfunktionen, Bildschirmlesegeräte oder Sprachassistenzen sind keine Tricks, sondern Brücken. Sie ermöglichen Teilhabe – genau wie Brillen oder Hörgeräte.

  • Zeitliche Flexibilität bei Leistungsabfragen: Starre Prüfungszeiten machen kreative Kinder klein. Manche denken langsamer, andere schneller – wichtig ist das Ergebnis, nicht der Zeitstempel.

  • Anerkennung von Reizfilterschwächen: Overload ist real. Rückzugsräume, lärmdämpfende Kopfhörer, gedimmtes Licht – kleine Mittel mit großer Wirkung. Nicht jeder will sich ausklinken, aber viele brauchen die Möglichkeit.

  • Barrierefreie Kommunikation: Piktogramme, visuelle Stundenpläne, klare Sprache, Bulletpoints – alles, was den Zugang erleichtert, hilft nicht nur neurodivergenten Kindern, sondern auch sprachlich schwächeren oder sensiblen Schüler*innen.

  • Lehrkräfte-Fortbildung zu Neurodiversität: Theorie reicht nicht. Was fehlt, ist ein praxisnahes Verständnis: Wie fühlt sich Reizüberflutung an? Was bedeutet „Masking“ im Alltag? Wie erkenne ich Shutdowns?

  • Begleitende Fachkräfte als Regelversorgung: Schulsozialarbeit, Schulpsycholog*innen, systemische Beratung und gut geschulte Schulbegleitung sollten nicht die Ausnahme, sondern ein fester Teil des Systems sein.

  • Beziehungsarbeit als pädagogisches Fundament: Kinder lernen nur dort gut, wo sie sich sicher fühlen. Eine vertrauensvolle Beziehung zur Lehrkraft kann mehr bewirken als jedes Förderprogramm.

  • Mut zur Regelabweichung: Nicht jedes Kind braucht denselben Stundenplan. Manchmal braucht es andere Startzeiten, verkürzte Tage, Pausen mit Betreuung oder ein eigenes Tempo – und das darf kein Stigma sein.

  • Ermöglichung individueller Hilfsmittel im Einzelfall: Ob Fidget Toys, Kaugummikauen zur Regulation oder – wie bei meinem Begleitkind – gezielter Handyeinsatz zur Reizreduktion und Fokussierung: Was funktioniert, sollte erlaubt sein, wenn es sinnvoll begründet ist.

Diese Veränderungen sind keine Zukunftsvision – sie sind in vielen Ländern längst Realität. Und auch in Deutschland gibt es Leuchtturmprojekte, Modellschulen und mutige Einzelpersonen, die zeigen: Neurodiversitätssensible Bildung ist möglich. Was fehlt, ist der politische Wille, sie flächendeckend umzusetzen – und das Vertrauen, dass Kinder wachsen dürfen, ohne gebogen zu werden.

 


Mut zur Vielfalt: Schule als Entwicklungsraum

 

Es gibt sie: Klassen mit doppelter Besetzung. Projektunterricht, in dem Neugier zählt. Peer-Lernen, bei dem Kinder voneinander lernen dürfen.

Emotionskarten, Gesprächskreise, das berühmte Gefühlsrad – all das sind kleine Tools mit großer Wirkung.

Wenn Schule sich als Ort versteht, an dem sich Kinder entfalten dürfen – statt nur zu funktionieren – beginnt echte Bildung.

Neurodivergente Kinder denken oft vernetzt statt linear. Sie finden kreative Lösungen, wo andere nur Probleme sehen. Sie spüren feine Nuancen. Sie merken, wenn etwas nicht stimmig ist. All das sind Fähigkeiten – keine Schwächen.

 


Warum das keine "Sonderbehandlung" ist

 

Gleichbehandlung ist nicht Gerechtigkeit.

Ein Kind, das ohne Pause läuft, braucht keinen Rollstuhl. Ein Kind mit gebrochenem Bein aber schon. Dasselbe gilt für kognitive, emotionale und sensorische Unterschiede.

Und: Alle profitieren von Vielfalt. Auch introvertierte Kinder. Auch stille. Auch die, die sich nie melden, aber innerlich Glanzlichter tragen.

Barrierefreiheit ist kein Gnadenakt – sie ist eine Voraussetzung für Teilhabe.

 


Bildung ist auch politisch – und deine Stimme zählt

 

Ich gebe ehrlich zu: Ich habe mich jahrelang vor Wahlen gedrückt. Nicht, weil mir alles egal war – sondern weil ich nicht das dringende Bedürfnis hatte, Verantwortung zu übernehmen. Politik war für mich etwas, das "die da oben" machen. Ich habe mich nicht gesehen gefühlt – also habe ich auch nicht hingeschaut.

Aber heute bin ich Mutter. Neurodivergent. Und meine Kinder sind es auch. Ich kann es mir nicht mehr leisten, wegzusehen.

Ich bin kein Mensch, der sich leidenschaftlich in Parteiprogramme vertieft. Aber ich bin jemand, der inzwischen weiß, wie sehr politische Entscheidungen unseren Alltag beeinflussen: Ob mein Kind eine Schulbegleitung bekommt. Ob eine Schule genug Mittel hat, um Lernräume flexibel zu gestalten. Ob Diversität gefördert oder nur geduldet wird.

Deshalb lohnt es sich, bei Wahlprogrammen bewusst hinzuschauen:

  • Wer spricht von echter Inklusion – nicht nur in Überschriften, sondern in konkreten Maßnahmen?

  • Wer setzt sich für pädagogische Vielfalt, individuelle Förderung und den Ausbau multiprofessioneller Teams ein?

  • Und wer plant Kürzungen, Standardisierungen oder sogar den Abbau von Hilfsstrukturen?

Es geht nicht darum, politisch laut zu werden – sondern darum,** für die Realität unserer Kinder einzustehen**.

Denn jedes Kreuz bei der Wahl entscheidet mit darüber, ob mein Kind lernen darf, wie es ist – oder lernen muss, sich zu verbiegen.

Und das ist mir nicht mehr egal.

 


Ein Appell an Lehrkräfte, Eltern und Politik

 

Neurodivergente Kinder sind nicht das Problem. Sie sind der Spiegel eines Systems, das zu wenig Spielraum lässt.

Wir brauchen keine Kinder, die besser funktionieren – sondern Strukturen, die besser vorbereitet sind.

Lasst uns häufiger fragen:
"Was braucht dieses Kind, um sein Bestes zu zeigen?"
Nicht: Wie bringe ich es dazu, sich anzupassen?

Diese Perspektive verändert alles: die Haltung, die Beziehung, die Ergebnisse.

 


Politische Forderungen: Von der Ausnahme zur Regel

 

Wenn wir Schule wirklich für alle Kinder gerecht gestalten wollen, braucht es mehr als gute Ideen – es braucht verbindliche politische Maßnahmen.

  1. Verankerung neurodiversitätssensibler Inhalte in der Lehrkräfteausbildung: Bereits im Studium müssen zukünftige Lehrkräfte lernen, was ADHS, Autismus, PDA, Dyskalkulie, Hochbegabung und Co. bedeuten – jenseits von Klischees. Das sollte Pflichtbestandteil sein, nicht Wahlmodul.

  2. Regelmäßige verpflichtende Fortbildungen für alle pädagogischen Fachkräfte: Neurodiversität ist kein einmal vermittelbares Thema. Wissen muss aktuell bleiben. Dafür braucht es Fortbildungsbudgets, Zeitfenster und echte Anreize.

  3. Finanzierung technischer und personeller Hilfsmittel: Tablets, Noise-Cancelling-Kopfhörer, adaptive Möbel, Schulbegleitungen – sie dürfen nicht vom Wohlwollen einzelner Schulen oder Elternengagement abhängen. Sie müssen im Regelbudget eingeplant sein.

  4. Verbindliche Standards für Nachteilsausgleiche: Die Umsetzung ist aktuell oft willkürlich und abhängig von Einzelfällen. Es braucht klare, bundesweit gültige Leitlinien, wann und wie Nachteilsausgleiche zu gewähren sind – ohne dass Familien dafür kämpfen müssen.

  5. Systemische Beratungsteams an Schulen etablieren: Teams aus Sonderpädagogik, Schulpsychologie, Sozialarbeit und ggf. medizinischer Expertise müssen Standard werden – um individuelle Förderpläne sinnvoll aufzustellen und umzusetzen.

  6. Reform der Schulinspektionen und Evaluationen: Neurodiversitätssensible Praxis muss ein Bewertungskriterium für Schulqualität werden – nicht nur Leistungstabellen und Abschlüsse.

  7. Stärkung inklusiver Schulprofile: Schulen sollen sich aktiv dafür entscheiden können, ein neurodiversitätssensibles Profil zu entwickeln – mit entsprechender Unterstützung und Sichtbarkeit.

Diese Forderungen sind keine Luxuswünsche. Sie sind notwendige Schritte auf dem Weg zu einer Schule, die allen Kindern gerecht wird – nicht nur denen, die zufällig ins Raster passen.

 


Und dann? Vielleicht geht es nicht darum, Schule neu zu erfinden.

 

Vielleicht geht es einfach nur darum, sie endlich auf echte Kinder auszurichten. Auf solche, die laut sind, leise, wild, verträumt, schnell, empfindsam.

Kinder, wie sie wirklich sind.

Wenn du ähnliche Erfahrungen gemacht hast – teile sie. Denn Veränderung beginnt mit Sichtbarkeit.

Folge mir für mehr Gedanken zu Neurodiversität, Bildung und echtem Leben.

 

Mehr Infos zum Thema sonderpädagogischer Förderbedarf findest du z. B. hier:

  • Ministerium für Schule und Bildung NRW: https://www.schulministerium.nrw

  • AO-SF Verordnung NRW (Amtliche Ausbildungsordnung für die sonderpädagogische Förderung)

  • Schulgesetz NRW (insbesondere § 19 SchulG, § 2 und § 17 

 

Herzlich,
FliWi


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