Was, wenn er nur die gute Version von mir liebt?

Veröffentlicht am 18. Juni 2025 um 18:00

© Lisa Widerek 2025 · Was, wenn der Mensch, der dich am tiefsten sieht, nicht bleibt – sobald du fällst?

Zwischen Nähe und Rückzug

Es ist eine dieser Ängste, die nicht laut wird. Sie legt sich leise zwischen Nachrichten, zwischen Blicken, zwischen Atemzügen. Sie taucht auf, wenn Nähe entsteht – nicht, weil man sie nicht will, sondern weil sie etwas in Bewegung bringt, das man so lange versucht hat zu kontrollieren.

Was, wenn er nur das liebt, was leicht an mir ist? Die Geduld. Die Wärme. Die Strahlkraft.

Was, wenn er die Frau liebt, die morgens freundlich ist, mittags reflektiert und abends in lila schreibt – aber nicht die, die verletzt, zynisch, überfordert, zu laut oder zu still ist?

Ich spüre manchmal, wie ich auf ein Podest gehoben werde. Und ich will dort gar nicht stehen. Weil man von dort aus tief fallen kann. Weil ich nicht idealisiert werden möchte – sondern ganz gesehen. Auch als die, die sich zurückzieht, wenn Nähe zu groß wird. Die unruhig wird, wenn sie sich verloren fühlt. Die testet, weil sie nicht weiß, wie Sicherheit funktioniert.


Schutzstrategien, die uns vorm Fallen bewahren sollen

Ich habe gelernt, mich zu kontrollieren, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand nur meine helle Seite liebt. Ich werde besonders sanft, besonders verständnisvoll – fast so, als müsste ich mich selbst zensieren. Aber innerlich baut sich Druck auf. Ich analysiere, überanalysiere, zerlege jedes Gespräch, jede Geste.

Um mich zu beruhigen. Um mich zu schützen. Um vorbereitet zu sein – falls er doch geht.

Und manchmal provoziere ich. Nicht, um zu verletzen. Sondern um den Absturz selbst auszulösen. Lieber selbst springen, als gestoßen werden. Lieber zu viel sein, als zu gutgläubig.

Wenn Nähe zu stark wird, werde ich sarkastisch, ironisch, fast kalt. Ich mache mich klein, schlagfertig, hart. Aber innerlich schreie ich: "Sieh mich. Bleib. Sag, dass ich nicht zu viel bin." Ich warte auf eine Reaktion, auf Bestätigung. Positiv oder negativ – Hauptsache, ich werde noch gesehen.


RSD, PDA und die Angst, echt zu sein

Was ich inzwischen verstehe: Dieses Verhalten ist nicht "Drama". Es ist neurologisch. Es hat mit Rejection Sensitive Dysphoria (RSD) zu tun – einer extremen Empfindlichkeit gegenüber (vermeintlicher) Zurückweisung. Studien zeigen, dass etwa 99 % der Menschen mit ADHS Symptome von RSD erleben. Auch bei Autismus ist RSD häufig anzutreffen.

Zudem spielt Pathological Demand Avoidance (PDA) eine Rolle – ein Profil innerhalb des Autismus-Spektrums, das durch extreme Vermeidung von Anforderungen gekennzeichnet ist. Untersuchungen deuten darauf hin, dass etwa 18 % der autistischen Personen Merkmale von PDA zeigen.

Eine Studie aus dem Jahr 2021 von O'Nions et al. beschreibt, dass Menschen mit PDA besonders empfindlich auf soziale Kontrolle reagieren. Nähe, Erwartungen, emotionale Verpflichtung – all das wird vom Nervensystem als potenzieller Kontrollverlust interpretiert.

Diese neurologischen Besonderheiten machen es fast unmöglich, Nähe einfach zuzulassen, ohne gleichzeitig in Alarmbereitschaft zu geraten.


Wenn Überforderung nach außen kalt wirkt

Es gibt Momente, da würde ich mir selbst am liebsten eine klatschen. Nicht, weil ich schlecht bin – sondern weil ich es wieder nicht geschafft habe, rechtzeitig zu kommunizieren. Wenn Nähe zu viel wird, reagiere ich nicht weich. Ich werde spitz. Hart. Ironisch. Kalt.

Weil ich glaube, dass niemand echte Nähe ernst nimmt, wenn sie zu warm wird.

Ich will nicht schnulzig sein. Ich will nicht bedürftig wirken. Also zeige ich lieber die raue Seite – in der Hoffnung, dass jemand hinter die Mauer schaut und sagt: „Du musst dich nicht verstecken.“

Aber oft passiert das nicht. Und wenn mein Rückzug übersehen wird, fühle ich mich dämlich, ungeliebt, uninteressant. Dann schließe ich ab. Leise. Ohne Drama. Aber mit Wunden.


Und was ist mit ihm?

Ich glaube, auch er hat Angst, nicht ganz geliebt zu werden.

Nicht, wenn er stark ist, souverän, charmant. Sondern dann, wenn er leise wird. Wenn er nicht weiß, was er sagen soll. Wenn er sich zurückzieht, weil es innen zu laut wird.

Ich erkenne diese Schutzreaktionen. Nicht im Detail – aber im Gefühl. Ich glaube, wir beide haben gelernt, dass echte Nähe gefährlich werden kann. Und testen unbewusst: Bleibst du auch, wenn ich nicht einfach bin?

Ich will ihn nicht bloßstellen. Aber ich will sagen: Ich sehe dich. In deiner Art, dich zurückzuziehen, wenn es eng wird. Und ich will lernen, dich nicht zu drängen – sondern zu verstehen. Ich wünsche mir nur, dass du mich teilhaben lässt. Wenigstens so viel, dass ich weiß: Es liegt nicht an mir. Es liegt an dem, was in dir tobt.

Und ja, ich weiß: Ich überanalysiere. Nicht, um ihn zu sezieren, sondern um mich selbst zu beruhigen. Ich überlege, wie ich beim nächsten Mal weniger Druck mache, wie ich ihn nicht verliere – ohne mich selbst zu verlieren.


Nähe und Bedürftigkeit – ein Widerspruch?

Wenn ich längere Zeit keine Rückmeldung bekomme, beginnt in mir ein Rückzug in Zeitlupe. Ich rede mir alles schlecht, verliere das Gefühl für das, was war. Plötzlich frage ich mich: War das echt? Habe ich mir das eingebildet?

Dann überanalysiere ich. Suche nach meinem Fehler. War ich zu laut, zu nah, zu viel? Habe ich etwas gesagt, das ihn verschreckt hat?

Mein Bedürfnis nach Nähe ist besonders stark, wenn ich euphorisch bin – ich will dann teilen, mich mitteilen, geliebt fühlen. Aber auch wenn ich überfordert bin oder traurig, suche ich Halt. Ambivalent ist das immer. Denn genau dann will ich Nähe – und gleichzeitig fürchte ich sie.


Gesellschaftlicher Druck und das Missverständnis von Nähe

Viele neurodivergente Menschen erleben Nähe nicht linear. Was für andere intuitiv ist – „Wenn ich traurig bin, will ich in den Arm genommen werden“ – ist für uns komplexer. Nähe kann beruhigen – oder überfordern. Sie kann wie Rettung wirken – oder wie Bedrohung.

In einer Gesellschaft, die Nähe als etwas Selbstverständliches idealisiert, fühlen wir uns oft falsch, wenn unser System anders reagiert. Wenn wir Rückzug brauchen, obwohl wir lieben. Wenn wir Distanz brauchen, um uns selbst zu spüren. Wenn wir kühl wirken, obwohl wir innerlich um Wärme betteln.


Was ich mir wünsche

Ich wünsche mir, dass Menschen verstehen, wie viele Konflikte aus missverstandener Schutzstrategie entstehen.

Dass man jemanden umarmt, auch wenn er abweisend wirkt. Dass man Nachfragen stellt, wenn Rückzug droht. Dass man nicht alles persönlich nimmt, was das Nervensystem steuert.

Und ich wünsche mir auch, dass ich selbst sanfter werde mit mir. Dass ich lerne, mich nicht zu verurteilen, wenn mein System Alarm schlägt. Dass ich mir selbst sagen kann: Du bist okay. Auch in dieser Reaktion. Auch in diesem Schutz.

Denn vielleicht ist genau das die wahre Herausforderung: Nicht perfekt zu lieben. Sondern zu bleiben – bei sich selbst. Und beim anderen.


Vielleicht geht es gar nicht um ihn – oder um mich

Vielleicht geht es um das, was wir beide nie gelernt haben:
Dass man geliebt werden darf – mit allem.

Nicht nur, wenn man lächelt. Sondern auch, wenn man wütet. Wenn man weint. Wenn man kämpft, zweifelt, überfordert ist.

Vielleicht liegt die Herausforderung nicht darin, perfekt füreinander zu sein – sondern ehrlich.
Zuzulassen, dass Liebe kein Podest braucht.
Nur Boden. Und ein Gegenüber, das bleibt.

Vielleicht tragen wir beide dieselbe Frage in uns:
Darf ich echt sein – und bleibst du dann trotzdem?

Herzlich,
FliWi


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Kommentare

Ingo
Vor 14 Stunden

Wow Lisa,das geht mir genauso wie dir,ich fühle genauso.