Zwischen Wahrheit und Sehnsucht: Meine Reise vom kleinen Lügner zum radikalen Wahrheitssucher

Veröffentlicht am 1. Juni 2025 um 10:00

© 2025 Lisa Widerek · Warum Lügen für manche von uns kein Verrat sind, sondern Überlebenskunst. Ein persönlicher Blick auf PDA, Autismus, ADHS – und den Mut, heute die eigene Wahrheit zu leben.

Als Kind habe ich Geschichten erfunden.

Nicht, um zu täuschen.

Nicht, um zu verletzen.

Sondern, um zu überleben.

Ich war ein Einzelkind in einer Welt, die oft kalt und einsam war. Ich habe mir Geschwister erträumt, habe davon erzählt, dass meine Mutter schwanger sei. Als die Fragen kamen, weil kein Bauch wuchs, habe ich die Geschichte weitergesponnen: Das Baby sei verloren gegangen. Und ich habe einen kleinen schwarzen Grundstücksstein gezeigt und gesagt:

"Da ist sie begraben."

Ich habe erzählt, dass ich neue Katzen bekomme, nachdem meine geliebten Tiere starben. Ich habe Aufgaben erfunden, die ich nicht geschafft hatte – nicht, um zu prahlen, sondern um keine Wut zu spüren, kein kaltes Enttäuschtsein.

Meine "Lügen" waren keine Waffen. Sie waren Rettungsboote.


Ich habe nicht gelogen, um anderen zu schaden. Nie.

Lügen, um Macht zu haben, um andere zu verletzen – das war nie mein Weg. Es wäre gewesen, als würde ich mein eigenes Herz verraten.

Vielleicht gerade deshalb trifft es mich heute so tief, wenn jemand behauptet, ich würde manipulieren.

Wie eine Therapeutin einmal sagte, als ich meinem narzisstischen Ex gegenüber endlich die Wahrheit aussprach:

"Sie dürfen ihn nicht fertigmachen."

Aber ich machte niemanden fertig. Ich lüge nicht. Ich kämpfe einfach nicht mehr für die Lügen anderer.

Ich erzähle meine Wahrheit. Und manchmal tut sie weh. Nicht, weil ich zerstören will – sondern weil Wahrheit in einer Welt voller Masken immer wie eine Explosion wirkt.


Heute bin ich ein notorischer Wahrheitssager.

Manchmal zu radikal. Manchmal zu direkt. Aber immer ehrlich.

Ich habe aufgehört, Geschichten zu erfinden, um mich selbst zu retten. Ich brauche sie nicht mehr. Denn ich habe heute einen Ort in mir gefunden, an dem ich stehen kann – auch wenn es unbequem wird.

Und doch passiert es manchmal noch: Wenn ich über tiefe Erlebnisse spreche, wenn die Emotionen so viel größer sind als das blasse Protokoll der Fakten, rutscht manchmal ein Satz hinein, der nicht wörtlich gefallen ist – aber das beschreibt, was ich wirklich gespürt habe.

Das ist kein Täuschen. Das ist emotionale Übersetzung.


Warum PDAler, Autisten und ADHSler manchmal "lügen"

Viele neurodivergente Menschen entwickeln früh Mechanismen, um mit einer überfordernden Welt umzugehen. Was oft als "Lüge" erscheint, ist häufig eine Schutzreaktion:

  • PDA-Profile (Pathological Demand Avoidance): Menschen mit PDA erleben jede Form von Erwartung als inneren Angriff. Geschichten oder Ausweichungen entstehen, um der empfundenen Bedrohung zu entkommen und Selbstkontrolle zu bewahren.

  • Autismus: In einer Welt, die soziale Codes verlangt, kann es Überlebensstrategie sein, Geschichten zu erfinden, die unangenehme oder unverständliche Situationen "retten".

  • ADHS: Durch Impulsivität und emotionale Überladung entstehen oft "Ausschmückungen" oder "Füllsätze", die weniger auf Täuschung als auf schnellen emotionalen Ausdruck abzielen.

Neurowissenschaftlich gesehen:

  • Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS oder Autismus oft Schwierigkeiten haben, soziale Erwartungen vorherzusehen oder richtig zu interpretieren (Theory of Mind).

  • Gleichzeitig sind emotionale Übersteuerungen (z. B. Rejection Sensitive Dysphoria bei ADHS) so stark, dass kleine Abweichungen in der Erzählung entstehen können – als Versuch, die eigene emotionale Wahrheit sichtbar zu machen.

Das Ziel ist selten Manipulation. Es ist der verzweifelte Versuch, sich selbst zu schützen oder endlich verstanden zu werden.


Was passiert im Gehirn?

Bei starker emotionaler Aktivierung – etwa durch Druck, Angst oder hohe Anspannung – verschieben sich Prioritäten im Gehirn:

  • Die Amygdala (das Angstzentrum) übernimmt die Kontrolle.

  • Der präfrontale Cortex (zuständig für rationales Abwägen und exaktes Erinnern) wird "heruntergeregelt".

  • Das Erleben wird dadurch gefühlsbetonter, die Details verzerren sich sanft.

Was daraus entsteht, ist keine bewusste Lüge, sondern eine gefühlsgetriebene Übersetzung der Realität.


Warum ich das heute teile:

Weil ich glaube, dass viele Menschen, die früh lernen mussten zu überleben, dieses feine Band zwischen Wahrheit und Fantasie kennen.

Weil ich glaube, dass Ehrlichkeit nicht bedeutet, emotionslose Fakten herunterzubeten. Sondern die eigene Geschichte so wahr zu erzählen, dass sie das Herz trifft – und nicht nur den Verstand.

Weil ich glaube, dass echte Integrität nicht darin liegt, nie zu stolpern, sondern darin, immer wieder aufzustehen und zu sagen:

"Ich will lieber eine unbequeme Wahrheit leben, als eine bequeme Lüge tragen."


Heute weiß ich:

Ich habe nie gelogen, um zu verletzen. Ich habe erfunden, um zu überleben. Ich habe Geschichten erzählt, um nicht an der Einsamkeit zu zerbrechen.

Und heute erzähle ich die Wahrheit, weil ich endlich einen Platz gefunden habe, an dem ich atmen kann.

Meine Wahrheit mag manchmal roh sein. Aber sie ist echt.

Und das ist mehr, als viele je von sich sagen können.


 

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Herzlich,
FliWi

 


 

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Hinweis: Alle Erfahrungen in diesem Text spiegeln meine ganz persönliche Geschichte wider. Sie sind keine allgemeingültigen Aussagen über Institutionen oder Personen. Fachliche Hinweise basieren auf allgemein zugänglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

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