PDA, starre Systeme und warum Freiheit manchmal anders aussieht, als wir denken

Veröffentlicht am 28. Mai 2025 um 18:00

© Lisa Widerek 2025 · Freiheit heißt nicht, überall Nein zu sagen. Manchmal heißt Freiheit: bewusst Ja zu sagen – und trotzdem man selbst zu bleiben.

Früher: Meine feste Überzeugung

Früher war ich überzeugt:
Menschen mit einem extremen Bedürfnis nach Autonomie – wie es bei PDA (Pathological Demand Avoidance) typisch ist – können in starren, hierarchischen Systemen niemals wirklich funktionieren.

Ich hatte diese klare Vorstellung:
Wer sich nicht an Regeln anpassen kann, wer auf Druck und Erwartungen mit Widerstand reagiert, wird in Strukturen wie Bundeswehr, Behörden, Schulen oder anderen klassischen Ordnungssystemen zwangsläufig untergehen.

PDA, so dachte ich, ist eine Art heimliche Verurteilung:
"Du passt nicht."
"Du wirst nicht bestehen."


Zahlen und Ängste

Schulabbrüche, Konflikte mit Autoritäten, ständiges Rebellieren – all das schien in der Beschreibung von PDA so unausweichlich.

Und die Zahlen geben dieser Angst erstmal recht:

  • Hohe Schulabbruchraten

  • Vermehrte Schwierigkeiten im klassischen Arbeitsmarkt

  • Häufige Fehlinterpretation als „aufsässig“ oder „unmotiviert“

Für lange Zeit sah ich in diesen Statistiken eine Bestätigung meiner größten Befürchtung:
Dass Menschen wie ich oder viele, die ich begleite, zum Scheitern verurteilt sind.


Heute: Eine neue Sichtweise

Aber irgendwann – inmitten eigener Erfahrungen, vieler Gespräche, vieler Reflexionen – habe ich gelernt:
Diese Vorstellung ist zu einfach.
Sie wird weder der Vielfalt von Menschen noch der Tiefe von PDA gerecht.

PDA bedeutet nicht, dass man unfähig ist, sich einzuordnen.
Es bedeutet, dass man sich nur dort einordnet, wo das eigene autonome Selbst nicht bedroht wird.

PDA bedeutet nicht zwangsläufig Chaos oder Rebellion.
Es bedeutet, dass Regeln nur dann akzeptiert werden, wenn sie logisch, respektvoll und transparent sind.

Dass echte Autorität anerkannt wird – nicht weil sie Macht ausübt, sondern weil sie Sinn ergibt.


PDA und funktionierende Systeme

Ich habe Menschen getroffen, die in klassischen Systemen arbeiten – und dabei trotzdem ihr inneres Freiheitsempfinden bewahrt haben.

Sie sind dort nicht unterwürfig.
Nicht blind angepasst.
Sondern bewusst gewählt anwesend.

Weil sie:

  • Sich eigene Nischen suchen konnten

  • Mit Vorgesetzten arbeiten, die Vertrauen statt Kontrolle leben

  • Sich ihre Werte bewahrt haben

PDA bedeutet manchmal nicht, ein System zu sprengen.
Sondern darin die eigenen Räume zu schaffen.


Freiheit neu gedacht

Heute verstehe ich:

Freiheit ist nicht immer die laute Weigerung.
Nicht immer das Nein auf jede Erwartung.

Freiheit ist die Fähigkeit, Ja zu sagen – wenn es sich wirklich nach einem eigenen Ja anfühlt.

Und manchmal bedeutet das:

  • Innerhalb eines Systems zu stehen – aber nicht darin gefangen zu sein.

  • Regeln zu befolgen – nicht aus Angst, sondern aus innerer Zustimmung.

  • Aufgaben zu erfüllen – nicht, weil sie erwartet werden, sondern weil sie sich richtig anfühlen.

Echte Freiheit ist manchmal leise.
Und unglaublich stark.


Schlüsselmomente auf meinem Weg

Ich erinnere mich an einen prägnanten Moment:
In einer Umgebung voller Hierarchie und Erwartungen hatte ich plötzlich einen Vorgesetzten, der fragte:

"Was brauchst du, um gut arbeiten zu können?"

Nicht: „Mach es so, wie ich es sage.“
Sondern: „Was brauchst du?“

Zum ersten Mal war der Raum da, um freiwillig zu leisten.
Und ich habe mehr erreicht als jemals unter Zwang.


Was andere neurodivergente Profile verbindet

Diese Erfahrung teilen viele Menschen mit:

  • ADHS: Bei zu viel Kontrolle sinkt die Motivation, bei Vertrauen steigt die Leistung.

  • Autismus: Transparente, respektvolle Strukturen helfen, das eigene Potenzial auszuleben.

  • Hochbegabung: Sinnstiftende Aufgaben sind essenziell, blindes Abarbeiten führt ins innere Leerlaufen.

  • Hochsensibilität: Einfühlsame Rahmenbedingungen erlauben erst echte Kreativität.

Freiheit ist nicht „Anti-Ordnung“.
Freiheit ist „pro Selbstbestimmung“.


Neurologische Grundlagen von PDA

Pathological Demand Avoidance (PDA) ist nicht einfach eine Verhaltensauffälligkeit, sondern hat tiefgreifende neurologische Ursachen.
Forschungen zeigen, dass bei Menschen mit PDA das autonome Nervensystem besonders empfindlich auf wahrgenommene Anforderungen reagiert.
Dies führt zu einer Überaktivierung des Sympathikus, was den Körper in einen Zustand von "Kampf oder Flucht" versetzt, selbst bei alltäglichen Aufgaben (neurodivergentinsights.com).

Diese Reaktion ist nicht willentlich steuerbar.
Selbst wenn der Verstand erkennt, dass eine Aufgabe wichtig ist, kann der Körper blockieren.
Dies erklärt, warum Menschen mit PDA trotz hoher Intelligenz Schwierigkeiten haben können, einfache Anforderungen zu erfüllen.


Evolutionäre Perspektiven auf PDA

Einige Theorien schlagen vor, dass PDA-Verhaltensweisen evolutionäre Vorteile gehabt haben könnten.
In frühen menschlichen Gemeinschaften könnten Individuen mit einem starken Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle dazu beigetragen haben, Gruppen vor übermäßiger Kontrolle oder gefährlichen Situationen zu schützen.
Diese Eigenschaften hätten somit zur Vielfalt und Anpassungsfähigkeit der Gruppe beigetragen.


Strategien für den Umgang mit PDA in strukturierten Umgebungen

Menschen mit PDA können lernen, in strukturierten Umgebungen zu funktionieren, ohne sich selbst zu verlieren.
Hier sind einige bewährte Strategien:

  • Selbstmanipulation: Das Umformulieren von Anforderungen in selbstgewählte Aufgaben kann helfen, den inneren Widerstand zu verringern.

  • Transparente Kommunikation: Offene Gespräche mit dem Umfeld über die eigenen Bedürfnisse und Grenzen schaffen Verständnis und reduzieren Konflikte.

  • Flexibilität und Wahlmöglichkeiten: Das Anbieten von Optionen statt starrer Anweisungen kann die Akzeptanz von Anforderungen erhöhen (pdasociety.org.uk).

  • Stressreduktion: Techniken wie Achtsamkeit, Atemübungen oder sensorische Hilfsmittel können helfen, das Nervensystem zu beruhigen.

  • Professionelle Unterstützung: Therapeuten, die mit PDA vertraut sind, können individuelle Strategien entwickeln und begleiten.


Fazit: Nicht jeder, der anders navigiert, ist auf dem Holzweg

PDA bedeutet nicht, dass Anpassung unmöglich ist.
Es bedeutet, dass Anpassung freiwillig sein muss.

Und vielleicht ist genau das die stillste und gleichzeitig mutigste Form von Freiheit:

Nicht, ständig zu fliehen.
Sondern an Orten zu bleiben, ohne sich selbst zu verlieren.

Wer das kann, ist nicht schwach.
Sondern stärker, als es auf den ersten Blick erscheint.

Herzlich,
FliWi


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Manchmal sind es die leisen Stimmen, die Systeme wirklich verändern.


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