© Lisa Widerek 2025 · Wie es sich anfühlt, wenn der Körper mehr weiß als der Kopf.
Über Alexithymie, Schutzmechanismen – und warum wir trotzdem nicht kaputt sind.

Verloren zwischen Kopf und Körper
Ich hab schon oft gedacht:
Vielleicht bin ich gar nicht emotionslos. Vielleicht hab ich einfach nur keinen verdammten Zugriff.
Manchmal spür ich’s nur im Körper.
Nicht im Herz, nicht im Kopf – sondern irgendwo zwischen Magen und Erschöpfung.
Da sitzt dann was. Drückt. Macht müde. Zieht runter.
Und erst Tage später, manchmal Wochen oder Monate, kommt dann dieser Moment:
Ach so. Das war also Trauer. Oder Wut. Oder was auch immer.
Nicht nur ich – auch andere ticken so
Und das geht nicht nur mir so.
Meine Freundin Jana hat mir neulich erzählt, dass ihr Onkel gestorben ist.
Und sie hat… nichts gefühlt. Oder alles. Oder irgendwas dazwischen.
Etwas so Irritierendes, dass sie es einfach ausgeknipst hat.
Wie einen Schalter.
Weil: Was soll sie mit dem Gefühl anfangen?
Es ändert ja nichts. Der Mensch kommt nicht zurück.
Also entscheidet sie rational: Gefühl wird ausgesetzt. Thema zu.
Und das klingt vielleicht brutal, aber es ist nicht kalt.
Es ist Schutz. Es ist Struktur. Es ist „Ich funktioniere trotzdem.“
Der Kopf als Schutzfilter
Ich weiß, was Psychologen sagen würden:
Gefühle müssen gefühlt werden. Sonst fressen sie dich auf.
Ich hab das alles gelesen, geglaubt, versucht.
Aber mein System denkt sich:
Wenn’s nicht weiterhilft, dann weg damit.
Und Jana sagt genau dasselbe.
So hat sie’s bei fast jedem Todesfall gemacht.
So macht sie’s auch mit Wut. Oder Ohnmacht.
Sie analysiert. Zerlegt. Denkt sich durchs Gefühl.
Und irgendwann, wenn sie Glück hat, spuckt ihr Kopf das richtige Wort aus.
Wenn Gefühle keinen Namen haben: Alexithymie
Was wir beide erleben – dieses intensive, aber schwer greifbare Fühlen –, hat sogar einen Namen:
Alexithymie.
Das bedeutet:
Gefühle sind da. Aber sie sind nicht sofort zugänglich, nicht benennbar.
Sie müssen oft erst mühsam über den Körper oder den Verstand entschlüsselt werden.
Und ja – ich weiß, das ist nicht „normal“.
Aber was ist das schon?
Fühlen in Zahlen und Skalen
Ich kenne viele, die genau das Gleiche erleben.
Die körperlich spüren, dass etwas nicht stimmt – und es trotzdem nicht benennen können.
Die in Zahlen, Logik und Bewertungsskalen fühlen.
„Wie traurig bist du auf einer Skala von eins bis zehn?“
Keine Ahnung. Fünf Komma sieben vielleicht?
Ein unbeschriftetes Archiv
Ich hab gelernt:
Gefühle sind wie ein unbeschriftetes Archiv.
Irgendwo liegt alles drin. Aber die Schubladen klemmen.
Und wenn ich dann doch mal was rausziehe, steht kein Etikett drauf.
Emotionale Fremdsprache
Noch spannender wird’s, wenn andere Menschen ins Spiel kommen.
Dann steh ich oft da wie auf einem anderen Kontinent.
Ich rede emotionales Mandarin – und alle anderen hören nur: „Hä?“
Und das Verrückteste:
Ich will eigentlich gern mitmachen. In Gruppen. Beim Kreativsein. Beim Dazugehören.
Aber dann kommen die Reize. Die Erwartungen. Die Stimmen.
Und ich will am liebsten mit Noise-Cancelling-Kopfhörern unterm Tisch sitzen und gleichzeitig dazugehören.
Janas Geschichte: Angst vorm weißen Blatt
Und Jana?
Die hat mir erzählt, warum sie beim Zeichnen und Fotografieren so blockiert ist.
Früher war es nie gut genug. Oder zu gut.
Wenn sie was richtig gemacht hat: Ärger.
Wenn sie was schlecht gemacht hat: Auch Ärger.
Der Mittelweg war der einzige sichere Platz.
Und heute zittert sie vorm weißen Blatt – aus Angst, dass ihr Bestes wieder falsch ist.
Anders verkabelt – nicht kaputt
Ich weiß, das klingt alles wirr.
Aber für mich ergibt es Sinn.
Es ist nicht, dass ich nicht fühlen will.
Ich kann es einfach manchmal nicht.
Oder erst später.
Oder nur in Form von Muskelkater im Herz.
Und vielleicht ist das auch Autismus. Oder ADHS. Oder Trauma. Oder einfach ich.
Aber ich weiß jetzt eins:
Ich bin nicht kaputt.
Ich bin einfach nur… anders verkabelt.
Und Gefühle haben keinen Fahrplan.
Aber manchmal haben sie Worte.
Heute waren es meine. Und ein paar von Janas.
Kennst du das auch?
Schreib mir. Oder fühl einfach mit.
Oder nimm’s mit. Vielleicht hilft’s.
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