Sensorische Paradoxien im Autismus – Warum ich Tattoos liebe, aber an nassen Socken verzweifle

Veröffentlicht am 30. April 2025 um 18:00

© Lisa Widerek 2025 · Wenn Schmerz leichter zu ertragen ist als ein nasser Socken – willkommen in der Welt sensorischer Paradoxien.

Schmerz? Kein Problem. Aber eine Naht im Shirt? Hilfe!

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mein erstes Tattoo bekommen habe.
Die Leute um mich herum fragten mich ständig, ob es weh täte.
Ich zuckte nur mit den Schultern:
"Nö. Ist sogar irgendwie meditativ."

Gleichzeitig war ich ein paar Tage später kurz davor, komplett auszurasten – weil mein T-Shirt ein Etikett hatte, das kratzte.
Oder weil ich beim Aussteigen aus dem Auto einen nassen Socken bekam.
Pure Katastrophe.

Willkommen in der Welt sensorischer Paradoxien.


Schmerztoleranz? Höher als hoch!

  • Tätowieren: Total entspannt.

  • Knochenbruch: Höchstens unangenehm.

  • Spritzen: Kein Thema.

  • Piercings: "Wie, schon fertig?"

Ich habe eine extrem hohe Toleranz für körperlichen Schmerz.
Das ist medizinisch nicht selten bei autistischen Menschen.
Mein Körper meldet zwar die Verletzung – aber mein Gehirn scheint sie irgendwie runterzuregeln.
Wie bei einem Lautstärkeregler, der nicht aufgedreht wird.
Ich kann da durch.
Irgendwie.
Irgendwann.


Gleichzeitig: sensorische Überempfindlichkeit bis zum Zusammenbruch

Doch wehe, ein Krümel klebt unter meinem Fuß.
Oder mein T-Shirt hat eine Naht, die nicht da sein sollte.
Oder – Gott bewahre – meine Socken sind nass.

Dann passiert etwas, das rational nicht zu erklären ist:
Ich reagiere über. Nicht emotional – körperlich.
Mein Nervensystem sendet ein "Notfall!"-Signal.
Ich kann nicht mehr klar denken.
Ich muss es sofort entfernen, ändern, loswerden.


Wie kann das beides zusammengehen?

Diese Frage habe ich mir lange gestellt.
Wie kann ich bei echten Verletzungen ruhig bleiben – aber bei Textil-Schildern ausflippen?

Die Antwort ist: Autismus.

Autismus verändert, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Vor allem sensorische.
Das bedeutet:

  • Schmerz wird nicht unbedingt als "Alarm" gespeichert.

  • Aber manche sensorischen Eindrücke (Licht, Geräusche, Stoffe, Reibung…) überschreiben alles.

Es ist keine Frage von "Stell dich nicht so an".
Es ist ein echtes neurologisches Phänomen.


Duschen? Sensorischer Ausnahmezustand.

Ich liebe Wasser.
Ich liebe Schwimmen.

Aber Duschen? Puh.

Da sind so viele Faktoren gleichzeitig:

  • Tropfendes Wasser

  • Temperaturunterschiede

  • Nasse Haare am Rücken

  • Rutschige Füße

  • Haare, die in die Ritze flutschen

  • Der Moment, in dem man nicht sofort trocken ist

Es ist kein Spaß. Es ist Reizüberflutung.


Was ich mir wünsche:

Dass wir aufhören, autistische Wahrnehmung zu bewerten.

  • Nur weil du Schmerz aushältst, heißt das nicht, dass du alles aushalten musst.

  • Nur weil du funktionierst, heißt das nicht, dass du okay bist.

  • Und nur weil jemand bei Spritzen cool bleibt, aber bei Geräuschen weint, heißt das nicht, dass er oder sie übertreibt.


Fazit:

Autismus ist voller Widersprüche.
Und trotzdem ergibt alles Sinn – wenn man zuhört.

Ich bin nicht zickig.
Ich bin nicht empfindlich.
Ich bin neurodivergent.

Und ich darf meine Reizgrenzen kennen, benennen und schützen.
Mit ganzem Herzen. Mit Glitzer.
Und mit sehr trockenen Socken.

Herzlich,

FliWi


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Hier musst du dich nicht erklären.


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