Wenn Nähe wehtut – Die Phasen zwischen Sehnsucht, Überforderung und Rückzug

Veröffentlicht am 29. Juni 2025 um 10:00

© Lisa Widerek 2025 · Manchmal frage ich mich, wie viel Nähe mein Nervensystem eigentlich aushält – und ob es jemals möglich ist, ganz zu lieben, ohne sich dabei zu verlieren.

Einatmen. Ausatmen. Rückzug.

Es beginnt meistens mit einem Moment, der eigentlich schön ist. Ein Gespräch, das tiefer geht. Eine Berührung, die länger bleibt. Ein Blick, der etwas sieht, das sonst niemand sieht. Und plötzlich wird aus Nähe etwas anderes. Etwas, das kribbelt, drückt, zieht. Und manchmal sogar weh tut.

Ich weiß, dass ich mich danach sehne. Nach echter Verbindung. Nach jemandem, der bleibt, auch wenn ich nicht strahle. Aber sobald es zu eng wird – sobald ich das Gefühl habe, mich verlieren zu können – zieht sich etwas in mir zurück. Es ist, als würde ein innerer Alarm losgehen.

„Achtung. Du könntest dich zeigen.“

Und gleichzeitig: „Achtung. Du könntest gesehen werden – und dann nicht mehr geliebt.“

 


 

Zwischen Zuneigung und Fluchtreflex: Mein Erleben

Es fühlt sich an wie ein Paradoxon: Ich wünsche mir Nähe. Und ich ertrage sie kaum.

In Beziehungen bedeutet das, dass ich manchmal innerlich „Stopp“ schreie, während ich äußerlich so tue, als wäre alles okay. Oder ich werde sarkastisch, kühl, abweisend – obwohl ich eigentlich nur eines will: gehalten werden. Gehört werden. Gesehen werden.

Ich weiß, wie ich dann wirke. Unnahbar. Unlogisch. Widersprüchlich. Aber was viele nicht sehen: Innerlich tobt ein Kampf. Zwischen Bindungssehnsucht und Panik. Zwischen dem Wunsch, endlich ganz ich zu sein – und der Angst, dafür verlassen zu werden.

 


 

Was in meinem Inneren passiert – neurologisch, emotional, körperlich

Wenn Nähe zu nah wird, reagiert mein System nicht einfach emotional – es reagiert neurobiologisch.

Neurodivergente Menschen, insbesondere mit PDA-Profil (Pathological Demand Avoidance), erleben zwischenmenschliche Nähe oft als innere Anforderung: „Verhalte dich richtig. Zeig dich richtig. Reagiere richtig.“ Nähe wird zur unbewussten Bedrohung, weil sie Erwartungen weckt. Oder weil sie alte Verletzungen anrührt.

RSD (Rejection Sensitive Dysphoria) – also die übersteigerte Angst vor Zurückweisung – tut ihr Übriges:

  • Wenn ich Nähe spüre, denke ich sofort: „Was, wenn ich gleich zu viel bin?“

  • Wenn jemand mir Zuneigung zeigt, frage ich mich: „Wie lange noch, bis ich enttäusche?“

Diese Gedanken sind nicht rational. Aber sie sind stark. Und sie verändern alles:

  • Mein Herzschlag geht hoch.

  • Ich werde ruhelos.

  • Ich verliere meinen inneren Kompass.

Und das kann so weit gehen, dass mein ganzer Körper aus der Regulation fällt: Ich dissoziiere leicht, ich muss flüchten, ich provoziere, um Kontrolle zurückzugewinnen. Es ist keine bewusste Entscheidung. Es ist ein Muster, das sich eingebrannt hat.

 


 

Die Phasen der Überforderung – und wie ich sie heute erkenne

  1. Euphorie: Nähe fühlt sich magisch an. Ich bin offen, präsent, verbunden.

  2. Zweifel: Ich beginne zu analysieren. „War das alles echt?“ „Bin ich gerade zu intensiv?“

  3. Selbstkritik: Ich durchforste jedes Detail. Suche nach meinem Fehler. Frage mich, ob ich zu viel wollte.

  4. Verunsicherung: Mein Bedürfnis nach Rückversicherung wächst – aber ich traue mich nicht, es zu kommunizieren.

  5. Kälte: Ich wirke abweisend. Mache ironische Witze. Bin nicht mehr zugänglich.

  6. Innerlicher Rückzug: Ich denke, ich bin nicht wichtig. Ich lasse los, obwohl ich bleiben will.

  7. Emotionale Distanzierung: Ich stumpfe ab, werde sachlich. Liebe fühlt sich plötzlich fremd an.

 


 

Wissenschaftliche Einblicke: Warum Nähe so herausfordernd ist

Studien zeigen, dass insbesondere Menschen mit neurodivergenten Profilen eine andere Reizverarbeitung haben. Eine Untersuchung von Sarah Hendrickx (2015) über Autismus und Beziehungen beschreibt, dass neurodivergente Menschen emotionale Reize oft intensiver erleben, sie aber langsamer oder bruchstückhafter verarbeiten – was zu Verzögerung, Überforderung oder Rückzug führen kann.

Ein weiteres Modell, das hilfreich ist, stammt aus der Polyvagal-Theorie nach Dr. Stephen Porges. Es erklärt, dass unser Nervensystem nicht nur zwischen Kampf oder Flucht entscheidet, sondern auch zwischen sozialer Verbindung und Schutz. Nähe kann, wenn das System unsicher ist, versehentlich als Bedrohung bewertet werden – und führt dann zu einem Shutdown oder Angriff.

 


 

Wenn Nähe Tests auslöst: Dramen, Rückzüge, Provokation

Was viele als „Drama“ oder „Unreife“ deuten, ist oft ein verzweifelter Versuch, innere Sicherheit herzustellen.

In Momenten tiefer Nähe kann ein neurodivergentes System überlasten – besonders bei früher Bindungsverletzung oder PDA. Was dann passiert:

  • Wir testen, ob der andere bleibt – auch wenn wir ungemütlich werden.

  • Wir provozieren, um zu fühlen, ob der andere uns noch will.

  • Wir stoßen ab, weil wir zu viel fühlen.

Diese Tests sind selten bewusst – aber sie geben uns kurzfristig Sicherheit. Wer in diesen Momenten ruhig bleibt, klar kommuniziert und emotionale Erdung bietet, kann tatsächlich helfen, diese Muster langfristig zu lösen.

 


 

Warum ich trotzdem lieben kann – und will

Früher dachte ich, das ist eben mein Schicksal. Ich bin zu sensibel. Zu chaotisch. Zu kompliziert.

Aber das stimmt nicht.

Ich habe einfach nie gelernt, wie Nähe aussieht, die nicht wehtut. Ich habe gelernt, dass Liebe etwas kostet. Dass sie Bedingungen hat. Und dass man immer mit einem Bein draußen bleiben muss, um sich zu schützen.

Doch inzwischen weiß ich: Ich kann lieben. Und ich darf geliebt werden. Auch in meinen unschönen Momenten.

Das bedeutet nicht, dass es einfach ist. Aber es bedeutet, dass es möglich ist.

 


 

Was mir hilft – und was ich mir wünsche

  • Menschen, die nicht zurückweichen, wenn ich widersprüchlich werde.

  • Partner, die meine Rückzüge nicht persönlich nehmen, sondern verstehen, dass es oft mehr mit mir zu tun hat als mit ihnen.

  • Kleine Verlässlichkeiten im Alltag: ein Guten-Morgen, ein nächstes Treffen, ein „Ich bin da“.

  • Gespräche auf Augenhöhe. Kein Drama. Keine Spielchen. Einfach echtes Interesse.

Und vor allem: Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft mehr über diese Mechanismen wissen. Dass Menschen nicht vorschnell als „beziehungsunfähig“ abgestempelt werden, nur weil ihr Nervensystem anders reagiert.

 


 

Was du mitnehmen darfst – wenn du dich wiedererkennst

Wenn du beim Lesen genickt hast: Du bist nicht allein.

Vielleicht kennst du dieses Wechselspiel aus Nähe und Rückzug. Vielleicht hast du dich selbst schon verflucht dafür, dass du Liebe willst und doch wegläufst, wenn sie kommt.

Ich verstehe dich. Und ich glaube: Wir sind nicht kaputt. Wir sind feinfühlig, klug, vielschichtig – und manchmal schlicht überfordert. Nicht, weil wir falsch sind. Sondern weil wir nie gelernt haben, dass echte Nähe sicher sein darf.

 


 

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Herzlich,
FliWi

 


 

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