© 2025 Lisa Widerek . Ein Blogtext über das stille Durcheinander zwischen Bewegung und Wahrnehmung – und warum Spiegeln für manche Menschen kein Automatismus, sondern ein Umweg durchs ganze Nervensystem ist.

Wenn „einfach nachmachen“ plötzlich schwer wird
Ich weiß genau, wo rechts und links ist. Ich habe keine Rechts-Links-Schwäche. Und doch stoße ich immer wieder an meine Grenze, wenn ich tanzen, turnen oder mitmachen soll – und die Person mir gegenübersitzt oder -steht.
Ob bei Zumba oder Kindersport, ob als Zuschauerin oder Teilnehmerin: Sobald ich spiegeln soll, gerate ich ins Stocken. Wenn jemand auf der Bühne die rechte Hand hebt, will mein Körper genau das tun. Nicht spiegelverkehrt. Nicht angepasst. Sondern synchron. Und das funktioniert nur, wenn die Person sich in die gleiche Richtung dreht wie ich.
In solchen Momenten entsteht ein sekundenlanges mentales Chaos: Ich sehe die Bewegung, aber bevor ich sie umsetzen kann, muss ich sie "umrechnen". Ich frage mich unbewusst: Welche Hand ist das? Muss ich dieselbe nehmen – oder die andere? Und während mein Gehirn rechnet, ist der Moment schon vorbei. Ich bin raus. Wieder zu langsam. Wieder "nicht richtig mitgemacht".
Das Problem ist nicht, dass ich nicht will. Oder dass ich nicht achte. Das Problem ist: Mein System kann die Information nicht sofort als Bewegung umsetzen, wenn sie gespiegelt ist. Ich brauche eine logische, identische Vorlage – keine verkehrte.
Mein Gehirn spult ein Bild ab, kein Schema
Ich kann sehr wohl entscheiden, wo rechts ist. Ich sehe in meinem Kopf sofort ein altes Straßenbild. Meine Mutter, wie sie mich zur Schule bringt. Mein Blick geht nach links. Dann nach rechts. Dann wieder nach links. Diese Bewegungsabfolge – eingebrannt.
Wenn ich mich heute entscheiden muss, wo rechts ist, geht dieses innere "Video" in Sekunden ab. Dann weiß ich es. Präzise. Schnell. Aber nicht automatisch. Nicht intuitiv. Ich brauche ein Referenzbild, keine Reflexlogik.
Mein Gehirn arbeitet nicht mit abstrakten Raumkategorien, sondern mit emotional gespeicherten Bildern. Ich weiß Dinge, weil ich sie einmal erlebt habe – nicht, weil ich sie über ein Schema gelernt habe. Das ist kraftvoll, aber es kostet Zeit. Ich muss Situationen "abspielen", um zu reagieren. Das macht mich nicht langsamer im Denken – nur bildbasierter im Handeln.
Und genau da wird es spannend: Denn Spiegeln funktioniert – zumindest für neurotypische Menschen – oft intuitiv. Bei mir nicht. Ich kann nicht auf ein Bewegungsmuster „springen“. Ich muss es sehen, dann in meinem inneren System „übersetzen“ – und dann versuchen, es umzusetzen.
Was besonders bitter ist: In der Schule wurde mir das nie erklärt. Ich bekam schlechte Noten im Sport, weil ich bei Gruppenübungen, Tanz oder Turnsequenzen immer „daneben“ lag. Nicht, weil ich unbegabt oder faul war – sondern weil mein Körper nicht spiegelte, sondern synchron sein wollte. Heute weiß ich, dass das ein Teil meines autistischen Profils ist. Damals fühlte es sich einfach nur wie Versagen an.
Autismus & Spiegelneuronen: Was die Forschung sagt
Spiegelneuronen sind Nervenzellen im Gehirn, die aktiv werden, wenn wir eine Handlung ausführen und wenn wir sie bei anderen beobachten. Sie helfen uns beim Nachahmen, Einfühlen, Koordinieren. Studien legen nahe, dass bei Autist*innen dieses neuronale System anders arbeitet – nicht defekt, aber verzögert oder selektiv aktiviert.
Das könnte erklären, warum:
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Ich Bewegungen nur "richtig" mitmachen kann, wenn sie in gleicher Richtung gezeigt werden
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Ich beim Spiegelsehen nicht automatisch umdenke, sondern umformatieren muss
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Mein Körper lieber synchron als gespiegelt funktioniert
Manche Forscher nennen das "gestörte Perspektivübernahme" oder "fehlende motorische Resonanz" – Begriffe, die technisch klingen, aber für mich ganz alltagspraktisch sind: Ich bin nicht faul, nicht unaufmerksam. Mein Gehirn denkt einfach nicht automatisch spiegelverkehrt.
Spiegelneuronen wirken nicht nur im Körper – sondern auch in Beziehungen
Spiegelneuronen sind nicht nur für körperliche Nachahmung zuständig, sondern auch für soziale Resonanz. Bei neurotypischen Menschen feuern diese Zellen nicht nur, wenn sie selbst eine Bewegung ausführen, sondern auch, wenn sie jemanden dabei beobachten. Dadurch entsteht das, was viele als "zwischenmenschliches Gefühl" erleben – das intuitive Mitschwingen, das sich in kleinen Bewegungen, Blicken oder Mimiken zeigt.
Bei Autist*innen funktioniert dieses System häufig anders. Nicht falsch, aber anders – und das hat Auswirkungen:
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Weniger automatische Mimikspiegelung: Während neurotypische Menschen oft unbewusst das Lächeln oder Stirnrunzeln ihres Gegenübers spiegeln, tun viele Autist*innen das nicht – oder verzögert. Das kann dazu führen, dass sie „kühl“ oder „uninteressiert“ wirken, obwohl sie innerlich viel fühlen.
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Emotionen nicht intuitiv miterleben: Spiegelneuronen tragen dazu bei, dass wir spüren, was andere fühlen, wenn wir sie ansehen. Fehlt diese automatische Resonanz, wird das Einfühlen zu einem bewussten, kognitiven Akt. Viele Autist*innen zeigen deshalb eher „kognitive Empathie“ (verstehend), statt „emotionale Empathie“ (mitschwingend).
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Soziale Reaktionen wirken „flach“ oder „unnatürlich“: Wenn spontane Reaktionen fehlen oder künstlich aufgebaut werden müssen, wirkt das Verhalten für Außenstehende manchmal „komisch“. Dabei ist es nicht unecht – sondern übersetzt. Zwischen Reiz und Reaktion liegt bei uns oft ein ganzer Denkprozess.
Und genau deshalb wirkt das Nicht-Spiegeln nicht nur auf körperlicher Ebene irritierend – sondern auch auf sozialer. Wer nicht zurücklächelt, obwohl man selbst freundlich war, wird schnell als unsympathisch abgestempelt. Dabei fehlt nicht das Gefühl – nur die neuronale Abkürzung dorthin.
Verständnis hilft hier mehr als Erziehung. Denn es geht nicht darum, Autist*innen beizubringen, wie man lächelt. Es geht darum, zu erkennen, dass auch ein nicht-gelächeltes Gesicht tief empfinden kann.
Und warum das wichtig ist
In einer Welt, in der Gruppenunterricht, Fitnessvideos und sogar Therapien oft mit Spiegelbewegung arbeiten, fühlt man sich schnell fehl am Platz. Ich habe mich oft geschämt, als wäre ich zu dumm, zu langsam oder zu unkonzentriert.
Heute weiß ich: Es ist mein Autismus. Es ist mein neurodivergentes Denken. Es ist mein Referenz-System, das mich nicht im Stich lässt – sondern auf seine Weise hilft.
Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht zuerst ein Bild im Kopf hätte. Wenn ich nicht innerlich einen Ort, eine Bewegung, eine logische Brücke brauchen würde. Es ist kein Mangel. Es ist ein anderer Zugang zur Welt.
Und vielleicht hilft dir dieser Text, dich selbst besser zu verstehen. Oder jemanden, der nicht sofort lostanzt, wenn du die rechte Hand hebst.
Herzlich,
FliWi
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