Gefühle auf Standby: Was passiert, wenn Emotionen Zeit brauchen

Veröffentlicht am 9. Juli 2025 um 18:00

© 2025 Lisa Widerek · Wenn Fühlen nicht sofort passiert – und du trotzdem alles spürst.

Wenn Emotionen im Wartemodus liegen

Es gibt Gefühle, die so leise sind, dass sie sich erst zeigen, wenn der Lärm im Kopf leiser wird. Momente, in denen du stunden- oder tagelang funktionierst, redest, planst – und erst viel später merkst, dass dein Herz geblutet hat. Oder jubelte. Oder beides.

Diese leisen Verzögerungen haben einen Namen: Alexithymie.

Ein sperriges Wort für eine Erfahrung, die viele neurodivergente Menschen kennen. Und eine Brücke zu verstehen, warum Emotionen manchmal nicht fehlen, sondern versteckt sind.

 


 

Wenn das Fühlen nicht sofort geht

Ich selbst habe lange gedacht, ich sei kalt. Oder zu rational. Oder irgendwie defekt.

Denn während andere weinen, wenn etwas Trauriges passiert, bleibe ich ruhig. Erst viel später – unter der Dusche, im Auto, beim Schreiben – überkommt mich dann das, was eigentlich schon vorher da war. Nur: Ich habe es nicht gespürt.

Das ist kein Mangel an Gefühl. Es ist ein anderes Timing. Mein Nervensystem funktioniert manchmal wie ein alter Drucker – langsam, ratternd, aber doch zuverlässig. Wenn auch zeitversetzt.

Das hat nicht nur Auswirkungen auf mich selbst, sondern auch auf meine Beziehungen. Wenn mein Gegenüber erwartet, dass ich unmittelbar reagiere, kommt häufig ein Bruch. Ich wirke dann abwesend, kühl oder desinteressiert – obwohl innerlich längst ein ganzes Gefühlsorchester zu spielen begonnen hat. Nur eben noch ohne Publikum. Ohne Bühne.

 


 

Was ist Alexithymie?

Alexithymie bedeutet wörtlich „Keine Worte für Gefühle“. Aber es geht noch tiefer: Menschen mit alexithymen Anteilen haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu erkennen, zu benennen oder zu unterscheiden. Sie spüren eine Körperreaktion – aber wissen nicht, ob das jetzt Wut ist. Oder Angst. Oder Hunger.

Etwa 10–20 % der Allgemeinbevölkerung zeigen alexithyme Merkmale, unter neurodivergenten Menschen ist die Zahl deutlich höher: Bis zu 65 % bei Autismus, ebenso erhöht bei ADHS, PTBS oder Essstörungen (Bird & Cook, 2013).

Laut einer Untersuchung der Universitäten Cambridge und Reading (2020) zeigen Menschen mit Alexithymie oft weniger Aktivierung im anterioren Insulakortex, der für die Integration von Körperempfindungen und Gefühlen zuständig ist. Das bedeutet: Die Informationen sind da, aber die Verarbeitung funktioniert verzögert oder diffus.

 


 

Warum passiert das?

Alexithymie ist keine Diagnose, sondern ein Merkmal. Sie kann angeboren oder erworben sein. Besonders häufig tritt sie auf bei:

  • Entwicklungstrauma (z. B. Vernachlässigung, emotionale Gewalt)

  • PTBS / komplexe PTBS

  • Autismus / ADHS

  • frühkindlichem Stress / Reizüberflutung

Emotionen werden hier nicht bewusst unterdrückt – sie werden einfach nicht direkt verarbeitet. Weil das Nervensystem auf Überleben statt auf Fühlen schaltet. Wenn die Amygdala ständig auf Alarm ist, bleibt keine Ruhe, um differenziert zu spüren.

In Beziehungen führt das dazu, dass ich manchmal erst nach einem Streit begreife, was mich eigentlich verletzt hat – oder was ich gebraucht hätte. Das verzögerte Spüren kann wie emotionale Kälte wirken, obwohl es in Wahrheit emotionale Desorientierung ist.

 


 

Wie sich das anfühlt (aus meinem Leben)

Ich merke, dass ich oft nicht merke, wie es mir geht. Erst wenn jemand fragt, komme ich ins Nachdenken. Und dann stottere ich rum, weiche aus, sag: "Keine Ahnung."

Dabei ist es nicht Desinteresse. Es ist das Gefühl, dass da etwas ist, aber ohne Form. Wie ein Lied, das du kennst, aber nicht singen kannst.

Ich habe Strategien entwickelt: Skalen (1 bis 10), Vergleichsbilder, Farben. Manchmal schreib ich Listen: "Was heute gut war". Oder ich frage ChatGPT.

Meine Kinder spüren oft deutlicher, was los ist. Und mein Lieblingsmensch merkt es auch, oft bevor ich es merke. Er fragt dann sanft. Oder spiegelt. Und manchmal läuft mir dann die Träne schon, bevor ich den Grund kenne.

Einmal fragte ich meine Ärztin, ob ich vielleicht einfach emotional platt bin – wie ein Toastbrot. Und sie sagte: „Du bist kein Toastbrot. Du bist ein vollwertiges Bio-Vollkornbrot mit Nüssen.“ Das war der Moment, in dem ich begann, nicht mehr nach kaputter Funktionalität, sondern nach komplexer Vielfalt zu suchen.

 


 

Welche Probleme entstehen daraus?

Alexithymie ist nicht nur ein innerer Zustand. Sie hat Auswirkungen:

  • Konflikte in Beziehungen, weil man sich emotional distanziert zeigt

  • Überforderung im sozialen Kontakt, weil man Stimmungen schlecht einschätzt

  • Körperliche Beschwerden, weil sich Emotionen in Symptomen zeigen (z. B. Magen, Schlaf)

  • Essstörungen oder Sucht, als Versuch, Gefühle zu regulieren, die man nicht versteht

  • Selbstzweifel, weil man denkt, man sei beziehungsunfähig oder gefühllos

  • Unpassende Reaktionen, weil man die Gefühle anderer nicht richtig spiegelt oder die eigenen zu spät ausdrückt

  • Fehlende Selbstfürsorge, weil das Bedürfnis nach Ruhe, Nähe oder Schutz zu spät erkannt wird

  • Spannungen im Job, weil die innere Anspannung nicht sichtbar ist – aber die Erschöpfung plötzlich kommt

Ich dachte lange, ich müsse einfach "besser fühlen". Dabei ist das wie zu jemandem mit Brille zu sagen: "Sieh doch schärfer."

 


 

Alexithymie in Beziehungen

Wenn man selbst nicht weiß, was man fühlt – wie soll man dann mit jemandem über diese Gefühle sprechen?

In engen Beziehungen ist Alexithymie eine Herausforderung, weil Nähe auf Kommunikation basiert. Und wenn ein Teil der Kommunikation innerlich blockiert ist, wirkt das schnell wie Desinteresse oder mangelnde Liebe.

Ich habe gelernt, dass ich oft erst später erkenne, was mir wichtig war. Oder warum mich etwas verletzt hat. Das heißt aber auch: Ich brauche Partner, die geduldig sind. Die mich spiegeln, ohne mich zu drängen. Die mir Raum lassen, aber nicht abwarten, bis ich zusammenbreche.

Manche Menschen erkennen meine Überforderung, noch bevor ich selbst sie merke. Wenn sie mich dann nicht bedrängen, sondern da bleiben – dann entsteht genau das, was ich brauche: ein sicherer Raum, um langsam wieder zu spüren.

 


 

Alexithymie in der Therapie

Therapie kann bei Alexithymie hilfreich sein – aber nicht jede Form. Gesprächsbasierte Therapien sind oft überfordernd, weil sie Sprache erfordern, wo noch keine vorhanden ist.

Mir hat geholfen:

  • Körperorientierte Verfahren (z. B. Somatic Experiencing)

  • Kreative Ansätze (z. B. Schreiben, Malen, Musik)

  • Emotionskarten oder Visualisierungen

  • Therapeut:innen, die Gefühle spiegeln statt erfragen

  • Pacing statt Drängen – also langsames Tempo, kein Druck

Ich brauche Zeit. Raum. Und jemanden, der mein Schweigen nicht als Widerstand, sondern als Suche versteht.

 


 

Strategien, die mir helfen

  1. Gefühlswörter sammeln (z. B. "Plutchik-Rad der Emotionen")

  2. Gefühlsprotokoll führen: Was ist passiert? Wie reagiert mein Körper? Welche Gedanken kamen?

  3. Achtsamkeits-Übungen, die in den Körper führen

  4. Farben oder Musik nutzen, um Stimmung zu beschreiben

  5. Mit vertrauten Menschen reflektieren

  6. Körperempfindungen ernst nehmen, z. B. Bauchdruck = Wut?

  7. Gefühlstagebücher mit Emojis oder einfachen Begriffen

  8. Pacing lernen: Stress vermeiden, damit Raum zum Fühlen bleibt

  9. Sich Zeit geben: Gefühle brauchen bei mir oft einen Umweg – aber sie kommen

  10. Glaubenssätze hinterfragen: Muss ich wirklich sofort fühlen, um echt zu sein?

 


 

Was andere erlebt haben

Ein Nutzer auf reddit.com/r/alexithymia schreibt:

„Ich wusste nicht, dass ich traurig war, bis mich jemand umarmte und ich zu weinen begann. Es war, als hätte mein Körper es vor meinem Kopf gewusst.“

Therapeutin Dr. Sharon Saline sagt:

„Für viele Menschen mit ADHS und Alexithymie sind Gefühle wie E-Mails im Posteingang: Sie stapeln sich, bis man sie öffnet. Und manchmal weiß man nicht einmal, dass sie da sind.“

Und ich selbst:

„Ich dachte, ich sei einfach robust. Aber in Wahrheit war ich nur gut darin, nicht hinzufühlen.“

Neurodivergente Influencerin @the_mind_reclaim schreibt:

„Ich dachte früher, ich sei gefühlskalt. Dabei war ich emotional überladen und hatte keine Sprache dafür. Heute weiß ich: Alexithymie ist ein Schutz, kein Makel.“

 


 

Was ich mir wünsche

Dass wir aufhören, emotionale Reaktion mit emotionaler Tiefe zu verwechseln. Viele von uns fühlen sehr viel. Nur eben anders. Später. Still. Indirekt. Aber nicht weniger echt.

Ich wünsche mir, dass Alexithymie ernst genommen wird – nicht als "Defizit", sondern als Ausdruck eines Nervensystems, das zu viel gesehen hat. Und dass wir lernen, Fühlen neu zu lernen. In unserem Tempo. In unserer Sprache. In unserer Tiefe.

Und dass wir aufhören, uns mit Toastbroten zu vergleichen. Weil wir längst mehr sind.

 


 

Herzlich, FliWi

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