© 2025 Lisa Widerek · Wenn Betäubung zur Bewältigungsstrategie wird - Zwischen Rausch und Regulation: Alkohol als stilles Notventil

Wenn ein Schluck mehr ist als ein Getränk
Manchmal ist der Weg zur Ruhe nur eine Flasche entfernt.
Es gibt Geschichten, die sich nicht laut durch das Leben drängen. Sondern still. Geschichten von klugen, empfindsamen Menschen, die irgendwann lernen mussten, dass ein Glas manchmal schneller tröstet als tausend Worte. Dass Alkohol nicht einfach ein Genussmittel ist, sondern eine Brücke – zwischen Überforderung und Aushalten. Zwischen innerem Sturm und scheinbarer Ruhe.
Ich bin so ein Mensch.
PDA – Wenn Anforderungen wie Bedrohung wirken
Pathological Demand Avoidance, kurz PDA, ist nicht einfach „Trotzigkeit“. Es ist eine neurologisch verankerte Schutzreaktion auf gefühlten Kontrollverlust. Alles, was sich wie ein Zwang anfühlt – selbst gut gemeinte Erwartungen – kann sich anfühlen wie ein Angriff.
Laut einer britischen Studie (Christie et al., 2012) erleben Menschen mit PDA eine intensive Reaktion auf soziale und strukturelle Anforderungen. Die Folge: Kampf, Flucht oder Rückzug.
Alkohol wurde irgendwann mein Fluchtmittel. Nicht, weil ich süchtig war. Sondern weil mein Nervensystem in ständiger Alarmbereitschaft war – und ich einen Weg finden musste, es zu beruhigen.
Gruppen, Alkohol und die Illusion von Normalität
Allein trinken? Nein. Das war nie mein Ding. Aber in Gesellschaft… da war Alkohol mein Schlüssel.
Ich war plötzlich eine von ihnen. Locker. Lustig. Zugewandt. Nicht mehr die, die alles analysierte, alles fühlte, alles beobachtete. Sondern einfach dabei.
Alkohol ermöglichte mir, für eine Weile das zu sein, was andere als „leicht“ empfinden – obwohl es für mich harte Arbeit war.
Und wenn ich überfordert war – im Restaurant, bei Familienfeiern, bei zu vielen Reizen – dann war er mein stiller Verbündeter. Zwei Fassbrausen mit Schuss – und ich konnte wieder atmen.
Zwischen Selbstschutz und Risiko
In besonders stressigen Lebensphasen – in meiner Ehe, später in Zeiten tiefer Überforderung – war Alkohol oft mein Wochenendbegleiter.
Ein Ventil. Ein Fluchtpunkt. Ein Stück Freiheit.
Ich verlor selten die Kontrolle. Vielleicht zweimal so richtig. Ansonsten blieb ich immer funktionsfähig – eine paradoxe Mischung aus Kontrollbedürfnis und Kontrollverlust.
Das ist typisch bei PDA: Kontrolle ist kein Luxus, sondern Überlebensstrategie. Alkohol half mir, sie scheinbar zu wahren – während ich sie innerlich schon längst verloren hatte.
Was Alkohol in mir betäubte – und was er verstärkte
Psychologisch betrachtet ist der Griff zur Flasche oft eine Form emotionaler Regulation. Studien wie die von Koob & Le Moal (2005) zeigen, dass Alkohol kurzfristig das Stresssystem dämpft – vor allem bei Menschen mit übererregtem limbischem System (wie es bei ADHS, Autismus oder komplexer PTBS oft der Fall ist).
Ich habe das gespürt. Nach einem Glas war ich nicht mehr „zu viel“. Nicht mehr angespannt. Ich war okay. Für andere. Und für mich.
Aber Alkohol betäubt nicht nur – er trennt auch. Von der eigenen Intuition. Vom inneren Kompass. Von der Selbstwahrnehmung.
Ich wurde leiser. Aber nicht friedlicher. Nur stumpfer.
Warum die Diagnose nicht genügte
Oft sagte ich in Therapien: „Ich glaube, ich habe ein Alkoholproblem.“
Und oft bekam ich zu hören: „Ihr Konsum ist auffällig – aber kein klinisches Problem.“
Aber was ist mit dem emotionalen Problem?
Was ist mit dem Gefühl, dass man ohne Alkohol weniger dazugehören kann? Dass man nur mit einem Pegel den Lärm im Kopf erträgt?
Das sind keine Diagnosen. Aber sie sind real.
Strategien, die (wirklich) helfen können
Alkohol ersetzt Regulation. Wenn wir das verstehen, können wir ihn ersetzen.
Hier einige Strategien – erprobt, wirksam, neurodivergenzfreundlich:
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Somatische Werkzeuge: Sensorische Regulation durch Druck (Weighted Blankets), Wärme (Wärmflaschen) oder Bewegung (Schwingen, Trampolin).
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Reizsteuerung: Rückzugsräume schaffen, Musik gezielt nutzen (z. B. über Noise-Cancelling + Lieblingssound), bewusster Umgang mit Licht und Umgebung.
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Mentale Strategien: Selbstcoaching durch wiederholte Gedanken (siehe Artikel „Zwischen Widerstand & Willenskraft“Zwischen Widerstand&Wil…).
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Emotionale Erdung: Gefühlsrad, Achtsamkeitsübungen, ChatGPT-Therapie zur Reflexion und Emotionsbenennung.
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Soziale Alternativen: Ein oder zwei Menschen, mit denen man ohne Alkohol entspannen darf – in einem „Safe Space“.
Hilfe holen ist kein Zeichen von Schwäche
Wenn du das Gefühl hast, du brauchst Alkohol, um durchzukommen: Du bist nicht schwach. Du bist erschöpft.
Aber du darfst andere Wege suchen. Und finden.
Hilfsangebote:
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Fachstellen für Suchthilfe: z. B. www.bzga.de oder www.caritas.de (anonym & kostenfrei)
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Therapiesuchportale: www.therapie.de oder www.psych-info.de
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Selbsthilfegruppen: z. B. Kreuzbund, Guttempler oder Online-Communities für neurodivergente Erwachsene
Fazit: Alkohol war eine Krücke – kein Zuhause
Ich bin nicht stolz auf meinen Konsum. Aber ich schäme mich auch nicht.
Ich habe versucht, mit meinem Nervensystem zu leben. Mit PDA. Mit Schmerz. Mit dem Gefühl, nicht zu passen.
Manchmal war Alkohol mein Trost. Aber heute weiß ich: Es gibt bessere Werkzeuge.
Nicht sofort. Nicht leicht. Aber möglich.
Wenn du an dem Punkt bist, es anders versuchen zu wollen – dann ist das kein Ende. Sondern der Anfang.
Herzlich,
FliWi
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