© 2025 Lisa Widerek · Ein Blogbeitrag über stille Anforderungen, Selbstmanipulation und den Versuch, in einer Welt zu funktionieren, die nicht für uns gebaut ist.

Was ist PDA überhaupt?
PDA steht für Pathological Demand Avoidance – pathologische Vermeidung von Anforderungen. Es handelt sich um ein Profil innerhalb des Autismus-Spektrums, bei dem soziale oder alltägliche Erwartungen massiven inneren Stress auslösen. Das kann so weit gehen, dass selbst freundliche Bitten als „Zwang“ empfunden werden.
Wichtig: Es geht nicht um Trotz. Es geht um eine tief verankerte, neurologisch bedingte Reaktion auf Kontrollverlust. Studien wie die von O'Nions et al. (2016) zeigen, dass das limbische System – besonders die Amygdala – bei PDA besonders empfindlich auf Reize reagiert. Die Folge: Flucht, Kampf oder Totstellen.
„Für Menschen mit PDA kann ein freundlicher Vorschlag sich wie ein unausweichlicher Zwang anfühlen.“ – Lizzie Cooke, PDA Society UK
Ein Blick ins Gehirn: Warum PDA neurologisch Sinn ergibt
Die Überreaktion auf Anforderungen hat eine konkrete Grundlage in der Hirnphysiologie:
-
Amygdala-Hyperaktivität: Die Amygdala erkennt Bedrohungen – auch soziale. Bei PDA ist sie dauerhaft sensibilisiert, wodurch schon kleine Reize Alarmsignale auslösen.
-
Vagusnerv und autonome Regulation: Die Polyvagal-Theorie (Porges, 2011) erklärt, dass unser Körper zwischen Sicherheit, Alarmbereitschaft und Erstarrung wechselt. PDA-Betroffene stecken oft zwischen Sympathikus-Hochlauf (Stress) und Dorsal-Vagus-Modus (Shutdown) fest.
-
HPA-Achse: Chronischer Stress aktiviert die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse – Cortisolspiegel steigen, das Nervensystem bleibt in Alarmbereitschaft.
-
Präfrontaler Cortex: Zuständig für Selbstregulation und Entscheidungsfindung. Unter Stress verliert er kurzfristig seine Steuerungsfähigkeit – was das „Ich kann nicht“-Gefühl neurologisch erklärt.
„PDA ist keine bewusste Entscheidung. Es ist eine biologische Reaktion auf eine als gefährlich empfundene Welt.“ – Dr. Judy Eaton, Neurodevelopmental Consultant
Zwischen den Zeilen lesen – und implodieren
Ich brauche keine Blicke, keine Tonlagen. Ich spüre Erwartungen einfach.
Ob beim Smalltalk, bei Schulterminen oder wenn jemand schreibt: „Kannst du noch kurz…?“ – mein Körper rast, mein Kopf blockiert, mein System ruft: NEIN.
Dabei will ich helfen. Aber ich kann es oft nicht – ohne mich selbst zu manipulieren.
Ich manipuliere mich – um zu überleben
Ich formuliere um: aus „Ich muss“ wird „Ich könnte“.
Ich trickse mich: „Will ich jetzt putzen oder zehn Minuten eine Socke streicheln?“ – Hauptsache, ich habe die Wahl.
„Ich liebe Narkosen“, habe ich mir selbst wochenlang eingeredet – bis ich es geglaubt habe. Weil mein System sonst kollabiert.
(aus: Zwischen Widerstand & Willenskraft)
Das ist keine Lüge. Es ist Selbstfürsorge.
Wenn Nähe wehtut – PDA in Beziehungen
PDA reagiert nicht nur auf To-dos. Sondern auch auf emotionale Erwartungen.
„Ich liebe dich – aber bitte erwarte nichts“ beschreibt diesen inneren Konflikt vielleicht am besten.
Ich möchte Nähe. Aber sie darf nicht wie ein Muss aussehen. Nicht wie: „Meld dich bitte täglich“ oder „Sag mir, dass du mich vermisst.“
„Ich sehe aus wie jemand mit einem Seil in der Hand – aber ich werfe es nicht. Nicht weil ich nicht will. Sondern weil ich überfordert bin.“
PDA bei Kindern – ein kurzer Blick durch Elternaugen
Wenn mein Kind bei den Hausaufgaben ausflippt oder beim Anziehen blockiert, erkenne ich: Es will nicht trotzen. Es kämpft gegen innere Panik.
Was hilft?
-
„Willst du lieber jetzt die Hose anziehen oder barfuß gehen?“
-
„Möchtest du die Hausaufgaben vorm Essen machen oder danach?“
-
Keine Konsequenzen bei Blockaden – sondern Zeit, Sicherheit, Wahl.
Denn PDA ist keine Faulheit. Es ist eine Fluchtreaktion eines überforderten Nervensystems.
PDA im Beruf – Zwischen Masking und Erschöpfung
Menschen mit PDA stehen im Arbeitsalltag oft unter Daueranspannung. Schon alltägliche Anforderungen wie ein Meeting, ein Rückruf oder eine To-do-Liste können das Nervensystem überfluten.
Viele PDA-Betroffene lernen früh, sich anzupassen – sogenanntes Masking. Sie erscheinen organisiert, kommunikativ, verlässlich. Doch hinter dieser Fassade tobt ein innerer Kampf. Jeder neue Auftrag, jede Erwartung kann sich wie ein Übergriff anfühlen.
„Ich kann beruflich performen – aber ich zahle dafür mit meinem Abend, meinem Wochenende, meinem Nervenkostüm.“
Typische Konflikte im Beruf:
-
Meetings ohne Agenda oder Zeitrahmen
-
Erwartung von Spontanität oder Smalltalk
-
„Kannst du mal eben…“-Anfragen
-
Micromanagement oder Kontrollverlust
Was helfen kann:
-
Strukturierte Arbeitsumfelder mit planbaren Abläufen
-
Klar kommunizierte Erwartungen und Deadlines
-
Flexibilität in der Aufgabenbearbeitung
-
Rückzugsräume – auch im Homeoffice
„Ich funktioniere nicht schlechter – ich funktioniere anders. Und manchmal besser, wenn man mich lässt.“
Alltag mit PDA – Wenn Banales zum Kraftakt wird
Es sind nicht nur die großen Aufgaben, die herausfordern. Manchmal reicht ein ganz normaler Tag, um alles zu kippen. Hier ein paar typische Szenen:
-
Supermarktbesuch: Schon das Wissen, dass ich noch einkaufen „muss“, blockiert mich. Ich stehe vorm Laden und gehe wieder heim. Oder ich vergesse absichtlich Dinge, um nicht alles auf einmal entscheiden zu müssen.
-
Telefonieren: Ich kann lieben Menschen tagelang nicht antworten, weil allein das Wählen der Nummer sich wie ein Angriff anfühlt. Ich will – aber mein System will nicht.
-
Müll rausbringen: Es ist absurd. Ich weiß, dass es fünf Minuten dauert. Aber ich denke drüber nach, schiebe es weg, erfinde Ersatzhandlungen. Mein Körper ruft: „Gefahr“ – und ich bleibe sitzen.
-
Sprachnachrichten hören: Besonders, wenn ich weiß, dass Erwartungen daran hängen. Ich tue so, als hätte ich sie nicht gesehen. Nicht aus Ignoranz – sondern aus Angst vor Druck.
PDA ist keine Frage der Motivation. Sondern der inneren Alarmanlage.
Manche dieser Szenen wirken von außen nicht nachvollziehbar. Aber sie zeigen, wie subtil PDA in den Alltag eingreift. Und wie wichtig es ist, mit sich selbst Geduld zu haben.
Emotionale Folgen – Zwischen Schuld, Scham und Selbstwert
Was nach außen wie Verweigerung wirkt, fühlt sich innen oft wie Versagen an. Menschen mit PDA erleben nicht nur die Anforderungen selbst als Belastung – sondern auch die Reaktionen darauf. Wenn andere genervt sind, wenn man „wieder nicht kann“, beginnt ein zerstörerischer Kreislauf:
-
Schuld: „Ich hätte doch einfach nur zurückrufen müssen.“
-
Scham: „Warum bin ich so? Warum fällt mir das so schwer, was allen anderen leichtfällt?“
-
Selbstzweifel: „Bin ich unzuverlässig? Bin ich falsch?“
Dieser Kreislauf wird oft noch verstärkt durch soziale Zuschreibungen: faul, unhöflich, distanziert. Und irgendwann beginnt man, sich selbst genau das zu glauben.
Was viele nicht sehen: Menschen mit PDA denken oft zehnmal mehr über ihr Verhalten nach als neurotypische Menschen. Sie wollen gefallen, dazugehören, funktionieren – aber ihr System lässt sie im Stich.
„Ich wusste, dass ich hätte antworten sollen. Aber ich konnte nicht. Und je länger ich wartete, desto größer wurde die Scham – bis sie mich komplett gelähmt hat.“
Diese emotionale Spannung – zwischen dem Wissen um Erwartungen und der Unfähigkeit, ihnen zu entsprechen – kann zu einer tiefen Erschöpfung führen. Manche sprechen von „PDA-Burnout“. Andere von „sozialer Überlebensmüdigkeit“.
Was hilft:
-
Radikale Selbstakzeptanz: „Ich bin nicht falsch – mein Nervensystem ist nur anders verdrahtet.“
-
Vertrauenspersonen: Menschen, die nicht bewerten, sondern begleiten.
-
Werteneutrale Kommunikation: „Ich schaffe das gerade nicht – und das ist okay.“
Denn PDA braucht nicht nur Strategien – sondern auch Mitgefühl. Für andere. Und für sich selbst.
Wissenschaft & Strategien – was wirklich hilft
🧠 Neurologische Fakten:
-
Überaktivität im limbischen System (Amygdala) bei Stress
-
Schwierigkeiten in der Selbststeuerung (präfrontaler Cortex)
-
Wahrnehmung von Anforderungen als Kontrollverlust (O’Nions et al., 2016; Eaton, 2021)
🛠️ Strategien für Alltag und Psyche:
-
Wahlmöglichkeiten mit absurden Optionen („Zähneputzen oder in den Spiegel singen?“)
-
Selbstverträge: „Ich mache X, wenn ich danach Y darf.“
-
Routine + Entlastung = Neutralisierung von Erwartungen
-
Druckabbau nach Reaktion – durch Tanzen, Weinen, Schreiben
🧰 Tools:
-
Gefühlsrad, Achtsamkeit, Reizsteuerung durch Musik/Umgebung
-
„Fake-Ziele“ zur Systemüberlistung (siehe „Zwischen Widerstand & Willenskraft“)
Was PDA nicht ist
❌ Faulheit
❌ Trotz
❌ Respektlosigkeit
✅ Ein radikales, ungebändigtes Nervensystem
✅ Ein Überlebensmechanismus in einer überfordernden Welt
✅ Ein ständiger Drahtseilakt zwischen Anpassung und Identität
„PDA ist das System, das ‘STOPP’ schreit – während alle anderen sagen: ‘Mach doch einfach.’“
Therapeutische Ansätze – Wege, die PDA erleichtern können
PDA ist kein Störungsbild mit einem klaren Therapieplan. Es ist ein Profil, das individuelle Lösungen braucht. Die klassische Verhaltenstherapie stößt hier oft an Grenzen – denn je mehr man fordert, desto stärker wird die Vermeidung.
Was sich in der Praxis bewährt hat:
-
Low Demand Approach: Eine Strategie, die bewusst auf Forderungen verzichtet. Statt „Jetzt aufräumen“ heißt es „Ich bin gleich soweit – du kannst mitmachen, wenn du magst.“
-
Systemische Therapie: Fokussiert auf das Beziehungsgefüge. Hilfreich, um Dynamiken zwischen Eltern, Partner:innen, Kolleg:innen oder innerhalb von Familien zu entwirren.
-
Traumaintegrierte Arbeit: Viele Menschen mit PDA zeigen Merkmale komplexer Traumafolgestörungen. Ansätze wie Somatic Experiencing, NARM oder körperorientierte Psychotherapie können helfen.
-
Neurodivergenzkompetente Begleitung: Therapeut:innen, die Autismus, ADHS und PDA kennen und respektieren, sind Gold wert. Denn nur so entsteht ein Raum ohne Anpassungsdruck.
„Ich brauche keinen, der mich optimiert – sondern jemanden, der mich begleitet.“
Hilfreiche Fragestellungen in der therapeutischen Arbeit:
-
Wo empfindest du Anforderungen als bedrohlich?
-
Welche Sprache triggert deinen Widerstand – welche beruhigt dich?
-
Wie fühlt sich Kontrolle für dich an – und wie kannst du sie behalten, ohne andere auszuschließen?
Therapie bei PDA bedeutet nicht, etwas „wegzumachen“. Sondern sich selbst zu verstehen. Und langsam wieder Vertrauen zu fassen: in sich, in Beziehungen – und ins Leben.
Call to Action – leise, aber bestimmt
Wenn du dich hier wiedererkennst – oder jemanden kennst, auf den das zutrifft – dann sprich darüber.
Sprich mit Lehrern, Ärzten, Freunden, Partnern. Nicht belehrend. Sondern erklärend.
Denn PDA lebt vom Schweigen. Und beginnt zu heilen, wenn wir den Druck sichtbar machen.
Herzlich,
FliWi
#PDA #Autismus #Selbstfürsorge #Kontrollverlust #Neurodivergenz #InnereRebellion #Vermeidung #Erwartung #EmotionaleRegulation #PDAimAlltag
er das verstanden hat, sieht nicht mehr Trotz – sondern Mut.
Kommentar hinzufügen
Kommentare