© 2025 Lisa Widerek · Charme & Chaos · Weihnachten gilt als Fest der Freude — aber für viele autistische und ADHS-geprägte Menschen ist es vor allem ein Fest der Überforderung. Geschenke auspacken vor Publikum, Geburtstagsähnliche Rituale, Erwartungsdruck, soziale Beobachtung — all das kann ND-Systeme zum Erliegen bringen. Dieser Text erklärt, warum das so ist und wie Familienfeste sofort stressärmer, kindgerechter und ND-kompatibel gestaltet werden können.
Weihnachten: Der Tag, an dem man Freude performen soll
Weihnachten wird gerne als „Fest der Liebe“ verkauft — aber für viele neurodivergente Menschen ist es vor allem das Fest der unfreiwilligen Bühnenauftritte.
Denn sobald die Geschenke bereitliegen und das Fest beginnt, verwandelt sich das Wohnzimmer in eine Art Mini-Theater:
Alle sitzen da.
Alle schauen hin.
Alle warten auf die richtige Reaktion.
Und für ND-Gehirne ist genau das der Punkt, an dem die innere Firewall kollabiert.
Während neurotypische Menschen dieses Ritual als selbstverständlich erleben, löst es bei Autismus-, ADHS- und PDA-geprägten Systemen häufig einen hochgradigen sozialen Stresszustand aus. Nicht, weil man die Menschen nicht liebt oder die Geschenke nicht mag — sondern weil das Hirn plötzlich zwischen drei Rollen gleichzeitig hin- und hergerissen wird:
Kind, Publikum und Schauspieler.
Ich selbst habe das als Kind gehasst.
Ich wollte nicht beobachtet werden, während ich etwas auspacke.
Ich wollte nicht „die Freude zeigen“, die andere sehen wollten.
Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, während zehn Augenpaare wartend mein Gesicht scannen.
Für mich war Geschenkeöffnen keine Freude.
Es war ein sozialer Bossfight.
Und jetzt sehe ich dasselbe Muster bei meinen Kindern.
Sie wirken schämig. Unsicher. Überfordert.
Nicht, weil sie undankbar wären, sondern weil ihr Nervensystem genau spürt, dass dieser Moment nichts mit kindlicher Freiheit zu tun hat — sondern mit sozialer Bewertung.
Wenn sie bei mir allein auspacken dürfen, sind sie entspannt.
Wenn andere zusehen, erstarren sie.
Weihnachten macht sichtbar, was im Alltag oft überdeckt wird:
ND-Menschen reagieren auf Freude anders — nicht weniger, nicht schlechter, nur anders.
Und genau deshalb müssen wir darüber reden, bevor wieder ein Kind an Heiligabend denkt, es mache „etwas falsch“, nur weil sein Gesicht nicht macht, was andere erwarten.
Geschenke auspacken unter Beobachtung – warum es so weh tut
Es klingt so harmlos: „Mach mal auf, wir sind ja so gespannt!“
Aber genau in diesem Moment passiert im ND-Gehirn etwas, das neurotypische Menschen kaum wahrnehmen:
Aus einem Geschenk wird eine Prüfung.
Sobald alle auf das Gesicht des Beschenkten starren, verschiebt sich der Fokus.
Es geht nicht mehr um das, was im Paket ist –
sondern darum, wie man darauf reagiert.
Autistischer Teil: Mimik im Delay-Modus
Meine Mimik kommt oft verzögert.
Innen freue ich mich wirklich –
aber außen bin ich neutral, überfordert, am Scannen.
Während ich noch sortiere, was ich da überhaupt in den Händen halte,
wartet das Umfeld schon auf ein strahlendes:
„Oh mein Gott, wie toll!“
Diese 2–5 Sekunden Verzögerung fühlen sich für ND-Menschen an wie eine Ewigkeit.
Und genau in dieser Lücke entsteht:
- Bewertungsangst
- Scham
- Stress
- Masking-Druck
ADHS-Teil: Freude da – aber überlagert von Analyse
ADHS macht Freude intensiver –
aber auch Reize intensiver.
Das heißt:
Während ich mich eigentlich freue, laufen innerlich 10 Gedanken gleichzeitig:
- „Sehe ich dankbar genug aus?“
- „War das jetzt die richtige Reaktion?“
- „Bin ich zu leise? Zu laut?“
- „Was, wenn sie denken, ich mag es nicht?“
Die Freude wird also nicht kleiner –
sie wird nur überdeckt von sozialer Unsicherheit.
PDA-Teil: „Ich MUSS jetzt reagieren“ = Zwangsmodus = Blockade
PDA reagiert extrem auf Erwartung.
Sobald mein Nervensystem spürt:
„Ich muss jetzt“,
schaltet es von Begeisterung auf Autonomiebrand um.
Nicht:
„Wie schön, ein Geschenk!“
Sondern:
„Ich werde gerade gezwungen, etwas zu tun, was bewertet wird.“
Zwang + Publikum = Shutdown.
Genau deshalb: der Schlüsselanhänger für meinen Lieblingsmenschen
Ich habe ihm sein Geschenk nicht überreicht.
Ich habe es ans Schlüsselbrett gehängt, damit er es selbst finden kann.
Kein Publikum.
Kein „Gefällt es dir??“
Kein performter Jubel.
Nur ein Moment, der ihm gehört.
Und meine Kinder? Genau dasselbe Muster
Sie packen lieber aus, wenn ich allein mit ihnen bin.
Dann sind sie locker, fröhlich, ehrlich.
Sobald andere zusehen, erstarren sie.
Nicht, weil sie undankbar wären –
sondern weil ihr Nervensystem genau spürt:
„Das hier ist gerade kein Geschenk. Das ist ein sozialer Drahtseilakt.“
Die intime Freude, die niemand sieht – und warum das völlig normal ist
Es gibt eine Wahrheit über neurodivergente Freude, die kaum jemand kennt:
Sie ist leise. Sie ist tief. Und sie ist oft unsichtbar.
Während neurotypische Menschen Emotionen wie Licht an- und ausschalten können,
funktioniert bei vielen ND-Gehirnen dasselbe wie bei einem alten Glühdraht:
erst glimmen,
dann brennen.
Und genau das macht das Schenken – vor allem an Weihnachten – so kompliziert.
Emotionen kommen später – innen dafür umso stärker
Viele autistische, ADHS- oder PDA-geprägte Menschen haben alexithyme Tendenzen:
Gefühle sind da, aber sie steigen verspätet auf.
In mir ist Freude oft ein inneres Wärmegefühl, kein Gesichtsausdruck.
Außen sehe ich dann aus wie jemand, der über einen Steuerbescheid nachdenkt.
Innen jedoch läuft ein kleines Feuerwerk.
Das Problem?
Niemand sieht das.
Und in Momenten, in denen alle warten, entsteht daraus schnell ein Missverständnis:
„Freust du dich gar nicht?“
„Sag doch mal etwas!“
„Warum guckst du denn so?“
Diese Sätze treffen nicht, weil man undankbar wäre –
sie treffen, weil sie das eigene System in Frage stellen.
ND-Freude ist introvertiert – nicht falsch
Neurotypische Menschen verknüpfen Freude mit sichtbaren Reaktionen:
- Lächeln
- Jubeln
- Überraschungsausdruck
- direktes Feedback
ND-Menschen dagegen erleben Freude oft:
- introspektiv
- körperlich gedämpft
- zeitverzögert
- wortlos
- tief, aber unsichtbar
Sie wirkt neutral, obwohl sie innerlich brennt.
Kinder spüren den Druck sofort
Meine Kinder zeigen dieses Muster 1:1.
Wenn sie allein sind, platzen sie vor Begeisterung.
Wenn jemand zuguckt, wirken sie steif oder ruhig –
nicht, weil sie das Geschenk nicht mögen,
sondern weil die Situation sie blockiert.
Und dann kommt der klassische Weihnachtsdialog,
den jedes ND-Kind fürchtet:
„Na? Freust du dich??“
„Zeig doch mal!“
Genau in diesem Moment entsteht ein Gefühl von Versagen.
Nicht, weil das Kind nichts fühlt –
sondern weil Erwachsene erwarten, dass Mimik und Emotion deckungsgleich sind.
Sind sie aber nicht.
Nicht bei mir.
Nicht bei meinen Kindern.
Nicht bei sehr vielen ND-Menschen.
Das ist kein Defizit.
Das ist Neurobiologie.
Ich habe als Kind einmal ganz nüchtern gefragt: „War das alles?“ — nicht aus Anspruchshaltung, sondern aus reiner Informationslogik. Mein Umfeld hörte jedoch Undankbarkeit, wo eigentlich nur Sachlichkeit gemeint war. Ein perfektes Beispiel dafür, wie ND-Direktheit und NT-Interpretation aneinander vorbeirauschen.
Geburtstagslieder, Weihnachtslieder & der Horror des Mittelpunktseins
Für viele neurotypische Menschen ist ein Geburtstags- oder Weihnachtslied ein schöner Moment.
Für ND-Menschen ist es das Gegenteil: ein sozialer Überfall.
Dieses plötzlich fokussierte „Alle schauen jetzt auf dich“ löst in ND-Systemen häufig Alarm aus.
Nicht, weil man das Ritual nicht versteht – sondern weil es sich anfühlt wie auf einer Bühne, ohne Ausweichmöglichkeit.
Meine eigene Kindheit: schämig, fixiert, beobachtet
Ich erinnere mich genau daran, wie unangenehm mir diese Situationen waren:
der Moment, in dem alle Stimmen verstummten, die Blicke sich sammelten und dann dieses Lied begann.
Ich fühlte mich nicht gefeiert.
Ich fühlte mich ausgeliefert.
Mein Körper spannte sich an, mein Gesicht wusste nicht, was es tun sollte – und die innere Frage war:
„Wohin mit mir?“
Meine Kinder zeigen heute genau das gleiche Muster
Beide sagen jedes Jahr dasselbe:
„Bitte nicht singen.“
Keine Bühne, keine Erwartung, kein Zwang zur Freude-Performance.
Wenn niemand hinschaut, können sie ehrlich reagieren.
Wenn alle hinschauen, frieren sie ein – aus dem gleichen Grund, den ich als Kind nie erklären konnte.
Auch mein Lieblingsmensch erlebt es genauso
Er reagiert identisch:
Lieder zu seinen Ehren fühlen sich für ihn nicht wie Zuneigung an, sondern wie sozialer Druck.
Es ist kein seltener Effekt – im Gegenteil.
Viele ND-Menschen empfinden solche Rituale als zu intensiv, zu direkt, zu viel auf einmal.
Warum Lieder & Rituale für ND-Gehirne zu viel sind
Rituale wie Geburtstags- oder Weihnachtslieder verlangen Synchronität, Mimik, soziale Präsenz –
alles gleichzeitig und ohne Pause.
Für ND-Systeme entsteht dabei eine Mischung aus:
• sozialem Druck
• sensorischer Überladung
• Erwartungsenergie
• Beobachtungsstress
Während NTs darin Harmonie wahrnehmen, spüren ND-Menschen Enge.
Warum NTs das oft falsch interpretieren
Viele Erwachsene deuten Rückzug, Scham oder Erstarren als Undankbarkeit.
Tatsächlich ist es Regulation.
Nicht jedes Gehirn kann Freude synchron nach außen tragen.
Nicht jedes Kind kann ein Lied als „schön“ empfinden, wenn es gleichzeitig im Mittelpunkt steht.
Für ND-Menschen ist der Mittelpunkt nicht der schönste Ort im Raum.
Es ist der lauteste.
Wenn Wünsche verdampfen – warum ND-Gehirne Geschenke anders erleben
Es gibt etwas, das neurotypische Menschen selten verstehen:
Unsere Wünsche haben ein Haltbarkeitsdatum.
Nicht, weil wir launisch sind.
Nicht, weil wir „ständig etwas Neues wollen“.
Sondern weil unser Dopaminsystem Themen speichert wie Browser-Tabs im Inkognito-Modus:
Nach dem Schließen ist alles weg.
Wenn ich im Oktober sage: „Oh, DAS hätte ich gern zu Weihnachten!“,
dann meine ich das in diesem konkreten Moment.
Mit echtem Interesse, echtem Dopamin, echtem „Boah, wie cool wäre das“.
Aber bis Weihnachten passiert: Alltag, Stress, neue Spezialinteressen, andere Reize.
Das Gehirn reguliert sich über das, was JETZT passt – nicht über etwas, das im Kalender steht.
So kann es passieren, dass ein Geschenk, das einmal perfekt war, plötzlich „nicht mehr auf dem Radar“ liegt.
Für NT-Menschen wirkt das wie Undankbarkeit.
Für mich fühlt es sich an wie:
Neurologie, nicht Charakter.
Sensorische Falle: Parfüm, Bodylotion & andere gut gemeinte Katastrophen
Viele Menschen schenken Dinge, die „alle mögen“:
• Parfüm
• Duschgelsets
• Bodylotion
• Duftkerzen
• Cremes
Für mich ist das die Hölle im Geschenkpapier.
Ich habe fünf, sechs Parfüms, die ich seit Jahren benutze – alles andere riecht
zu stark,
zu süß,
zu zitrisch
oder einfach falsch.
Bodylotion fühlt sich für mich in 90 Prozent der Fälle an wie ein Fettfilm aus Traurigkeit.
Mein Körper sagt „Nein“.
Nicht leise.
Mit Megafon.
Und deshalb wirkt ein „Riecht doch gut!“ für NTs logisch –
für ND-Menschen ist es eine sensorische Überforderung.
Nicht, weil wir wählerisch sein wollen.
Sondern weil unser Körper mitentscheidet.
Und das tut er laut.
Die ND-Geschenkregel: Entweder extrem persönlich – oder lieber Gutschein
Ich bin jemand, der unfassbar persönliche Geschenke machen kann.
Mit Bedeutung, Symbolik, Konzept, Emotion.
Aber ich kann das nicht für jeden leisten.
Nicht jedes Jahr.
Nicht zu jedem Anlass.
Ich habe nicht die Kapazitäten, für jeden Hans und Franz ein kleines Kunstwerk zu bauen.
Und gleichzeitig bin ich nicht der Typ „DM-Badebombe für 3,95 €“.
Ich weiß zu gut, wie viele Menschen sensorisch genauso gestrickt sind wie ich.
Deshalb sind Gutscheine oder Geldgeschenke für mich nicht unpersönlich –
sie sind ND-kompatibel.
Sie schenken Freiheit.
Autonomie.
Den richtigen Kauf im richtigen Dopaminfenster.
Mikroenttäuschung – das heimliche Gefühl, das niemand ausspricht
Selbst wenn man sich über ein Geschenk freut, kann im Hintergrund etwas anderes passieren.
Das Gehirn flüstert Dinge wie:
• „Ich brauche gerade etwas anderes.“
• „Mein Interesse ist gekippt.“
• „Der Reiz passt nicht zu meinem Körper.“
Manchmal entsteht dann ein Moment, der in ND-Gehirnen völlig normal ist –
aber in NT-Ohren katastrophal klingt.
Ich habe, wie bereits erwähnt, als Kind einmal ganz nüchtern gefragt:
„War das alles?“
Für mich war das eine rein sachliche, informationsorientierte Frage.
Für mein Umfeld klang es wie Unersättlichkeit und Undankbarkeit.
Zwei Welten, ein Satz –
komplett unterschiedliche Bedeutungen.
Diese Mikroenttäuschungen sind kein Charakterfehler.
Sie sagen nichts darüber aus, wie sehr man die schenkenden Menschen liebt.
Sie erzählen nur etwas über die Art, wie ND-Gehirne Zeit, Reize und Wünsche verarbeiten.
Wenn man das versteht,
nimmt man Druck raus.
Und plötzlich wird Weihnachten wieder ein Ort,
an dem Beziehungen wichtiger sind als Reaktionen.
Weihnachten ist ein sensorischer Bossfight
Für viele Menschen ist Weihnachten gemütlich: Musik, Lichter, Gespräche, Düfte.
Für ein ND-Nervensystem ist es oft etwas anderes: ein Sinnesfeuerwerk ohne Pausetaste.
Sinnesfeuerwerk ohne Filter
Weihnachten bündelt alles, was Reizfilter herausfordert:
• Musik, Fernseher, klirrende Gläser, Stimmengewirr
• Essensgerüche, Parfüm, Duftkerzen
• flackernde Lichter, Deko, Geschenkeberge, raschelndes Papier
Für autistische und ADHS-geprägte Gehirne bedeutet das:
Der Input kommt gleichzeitig und ungefiltert.
Es gibt keinen „Nebenbei-Modus“. Alles ist laut, alles ist wichtig, alles schreit nach Verarbeitung.
Während neurotypische Menschen das als „festliche Stimmung“ erleben, versucht ein ND-System innerlich, nicht die Verbindung zu verlieren: Reize sortieren, sich orientieren, Körpersignale regulieren – und nebenbei noch „normal wirken“.
Doppelte Last: Reize plus Performance
Genau in dieses Setting hinein soll dann auch noch Freude performt werden:
• Geschenke auspacken
• Smalltalk
• Reaktionen zeigen
• „Bedank dich mal schön“
Reizüberflutung allein wäre schon anstrengend.
Reizüberflutung plus soziale Erwartung wird zur Daueranspannung.
Das Gehirn arbeitet längst im Notfallmodus, während außen alles nach „harmonischem Familienfest“ aussieht.
Wenn Überforderung in Scham kippt
Irgendwann zeigt der Körper, was das Nervensystem schon lange weiß:
• Kinder werden laut, weinen oder knallen Türen
• oder sie werden still, ziehen sich zurück, wollen nichts mehr auspacken
• manche wirken „bockig“ oder „komisch“, weil sie sich nur noch schützen
Von außen sieht es dann oft aus wie Undankbarkeit, Laune oder „schlechtes Benehmen“.
In Wahrheit ist es: Überforderung, die sichtbar wird.
Und das eigentlich Tragische passiert danach:
Nicht der Stress ist das Problem –
sondern die Scham darüber, dass man „am schönsten Tag“ nicht so funktionieren konnte, wie alle es erwartet haben.
Warum neurodivergente Kinder an Weihnachten oft „komisch“ wirken – und warum das gesunde Regulation ist
Weihnachten gilt als Fest der Freude – doch für viele ND-Kinder ist es ein Fest der Reiz- und Erwartungsmaximierung. Was nach außen wie „schlechte Laune“, „Undankbarkeit“ oder „seltsames Verhalten“ wirkt, ist in Wahrheit ein völlig normaler neurobiologischer Selbstschutz.
Mini-Me als Beispiel
Er zeigt es jedes Jahr sehr deutlich:
Vor Weihnachten ist er neugierig, aufgeregt, voller Vorfreude –
doch sobald der wichtigste Moment kommt, kippt etwas.
Er wirkt still.
Oder überdreht.
Oder möchte plötzlich nicht mehr auspacken.
Oder er zieht sich komplett zurück.
Für viele Eltern wäre das Grund zur Sorge oder zum Ärger.
Für mich ist es ein klares Zeichen: Sein Nervensystem reguliert.
Überforderung hat viele Gesichter
ND-Kinder zeigen Stress oft anders als NT-Kinder.
Typische Weihnachtsreaktionen sind:
- Rückzug („Ich will kurz allein sein.“)
• Wut oder starke Emotionen
• Stille, Erstarren, Keine-Reaktion-mehr-haben
• Nicht-Auspacken-Wollen („Ich mach das später.“)
• scheinbare Ablehnung von Geschenken
Das ist kein manipulatives Verhalten.
Es ist eine Schutzfunktion.
Das Nervensystem sagt:
„Zu viele Reize. Zu viele Erwartungen. Ich brauche Pause.“
Warum PDA-Kinder besonders blockieren
Für Kinder mit PDA-Profil ist Weihnachten gleich doppelt schwierig:
• Reizüberflutung
• + soziale Erwartung
• + implizite Pflicht, „dankbar auszusehen“
PDA-Kinder können keine Handlung ausführen, die sich erzwungen anfühlt.
Nicht einmal „Danke sagen“ in einem Moment, in dem ihr System brennt.
Das ist keine Respektlosigkeit.
Es ist Biologie, keine Attitüde.
Weihnachten: ein Tag voller Routinenbrüche
ND-Kinder leben von Vorhersehbarkeit.
Weihnachten dagegen besteht aus:
- anderem Tagesablauf
• anderem Essen
• anderen Menschen
• anderer Lautstärke
• anderen Ritualen
• anderen Erwartungen
All diese kleinen Abweichungen addieren sich zu einem massiven Stresslevel.
Viele Eltern reagieren dann mit Sätzen wie:
„Sei doch dankbar!“
„Jetzt reiß dich zusammen!“
„Guck mal, wie viel Mühe wir uns gegeben haben!“
Doch die Wahrheit ist:
ND-Kinder sind nicht undankbar.
Sie sind überfordert.
Überforderung ist nicht Moral.
Überforderung ist Überleben.
Wenn man dieses Verhalten als Regulation versteht und nicht als Problem, verändert sich Weihnachten sofort:
Man sieht das Kind nicht als „schwierig“,
sondern als jemanden, der gerade versucht, in einem viel zu lauten System klarzukommen.
Wie man Weihnachten ND-kompatibel macht – konkrete Tipps für Eltern & Angehörige
Weihnachten muss kein sensorischer Endgegner sein.
Und es muss auch kein Tag sein, an dem ND-Kinder beweisen sollen, dass sie sich „richtig freuen“ können.
Man kann dieses Fest mit sehr kleinen Anpassungen so verändern, dass Kinder nicht funktionieren müssen – sondern sein dürfen.
Dieser Abschnitt ist kein theoretischer Teil.
Er ist ein Werkzeugkasten.
Ein Rettungsring.
Eine Weihnachts-Entschärfung.
Für Geschenke:
1. Auspacken ohne Publikum
Der wirkungsvollste Tipp überhaupt.
Ein Kind muss nicht vor zehn Menschen Freude performen.
Es darf entscheiden, wann und mit wem es ein Geschenk öffnet.
2. Geschenke hinlegen statt überreichen
Ein Geschenk, das still bereitliegt, bedeutet:
„Es gehört dir. Du hast alle Zeit der Welt.“
Ein Geschenk, das jemand in die Hand drückt, signalisiert:
„Jetzt musst du reagieren.“
3. Schriftliche Karten – enorme Entlastung
Ein paar Worte auf Papier nehmen Druck raus.
Das Kind muss nicht sofort antworten, lächeln oder reagieren.
Es kann die Botschaft in Ruhe aufnehmen.
4. „Du darfst es später öffnen“
Dieser Satz ist reine Regulierungsmagie.
Er erlaubt Autonomie, gibt Kontrolle zurück und verhindert PDA-Blockaden.
5. Kein erzwungenes „Bedanke dich jetzt sofort!“
Ein Danke, das aus einem überlasteten System kommt, ist kein Danke.
Es ist Masking.
Echte Dankbarkeit kommt später – wenn das Nervensystem wieder frei ist.
Für Rituale:
1. Kein Geburtstags- oder Weihnachtslied ohne Zustimmung
Fragen statt überfallen.
Viele ND-Kinder empfinden solche Lieder wie einen Flutlichtscheinwerfer auf der Seele.
2. Rückzugsort einplanen
Ein ruhiger Raum, Noise-Cancelling-Kopfhörer, ein Sofa in der Ecke – ND-Kinder brauchen Exit-Strategien.
3. Ruhemomente zwischen Reizen schaffen
Nicht fünf Programmpunkte hintereinander.
Nicht „Jetzt noch dies, jetzt noch das“.
Reize müssen abfließen dürfen.
4. Zeitlich entzerren
Man muss nicht alles am Stück machen.
Nicht alle Geschenke gleichzeitig.
Nicht alle Rituale in einer Stunde.
Weniger Gleichzeitigkeit = weniger Überforderung.
Für Angehörige:
1. ND-Freude ist oft leise – nicht falsch
Ein stilles Kind ist nicht undankbar.
Vielleicht ist es gerade nur glücklich auf ND-Art.
2. Keine Bewertungen („Hach, freust du dich nicht?“)
Solche Sätze sabotieren das Nervensystem.
Sie vermitteln: „Du reagierst falsch.“
3. Nicht zur Performance drängen
Kinder müssen nicht laut, strahlend, überschwänglich sein.
Sie müssen sicher sein.
4. Das Kind entscheidet über Pace & Sichtbarkeit
Es darf bestimmen, wie schnell, wie viel und vor wem es interagiert.
Diese Tipps sind kein Luxus.
Sie sind kein „Verwöhnen“.
Es sind Wege, Weihnachten endlich so zu gestalten,
wie ND-Kinder es brauchen:
vorhersehbar, leise, autonom –
und damit überhaupt erst wirklich schön.
Fazit – Wahre Freude entsteht in Freiheit, nicht unter Beobachtung
Weihnachten zeigt jedes Jahr aufs Neue, wie unterschiedlich Gehirne dieselben Situationen erleben.
Für neurotypische Menschen ist ein Geschenk ein Moment der Nähe.
Für viele neurodivergente Menschen ist es dagegen ein Moment der Bewertung.
Nicht, weil sie die schenkenden Personen weniger lieben –
sondern weil ihr Nervensystem Autonomie braucht, um Freude überhaupt spüren zu können.
Geschenke sind intim.
Sie entfalten sich nicht unter Flutlicht, sondern im Halbschatten.
In ruhigen Momenten.
Ohne Blicke, ohne Erwartungsdruck, ohne das unausgesprochene „Zeig doch mal!“.
ND-Menschen brauchen Freiheit, um emotional erreichbar zu sein.
Kinder erst recht.
Sie brauchen Sicherheit statt Performance,
Rituale, die weich sind,
Feiertage, die nicht überfordern,
Erwartungen, die man atmen kann.
Wenn wir ihnen erlauben, Weihnachten auf ihre Weise zu erleben –
nicht lauter, nicht bunter, nicht „richtiger“, sondern ehrlicher –
dann entsteht etwas, das in keiner Geschenkverpackung liegt:
Ein Fest, das wirklich Freude macht.
Ein Fest, das niemanden überfordert.
Ein Fest, das für jedes Gehirn Platz hat.
Wie war Geschenköffnen für euch als Kind? Wie ist es heute? Was brauchen eure ND-Kinder an Weihnachten wirklich? Schreib’s mir in die Kommentare – vielleicht verändert deine Erfahrung die Feiertage einer anderen Familie.
Herzlich, FliWi
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