Spezialinteressen-Hopping – Warum mein Gehirn keine Hobbys hat, sondern Evolutionsprojekte

Veröffentlicht am 3. Dezember 2025 um 18:00

© 2025 Lisa Widerek · Charme & Chaos · Spezialinteressen-Hopping klingt für Außenstehende wie „ständig neue Hobbys“. In Wahrheit ist es Neurobiologie auf Turbolader-Niveau. Mein Gehirn arbeitet nicht linear, sondern in Wellen – angetrieben von ADHS-Dopamin, autistischem Tiefgang und PDA-Autonomie. Dieser Text erklärt, warum meine Interessen nicht flüchtig sind, sondern zyklische Evolutionsprojekte – und warum das kein Chaos ist, sondern Kompetenz in Spiralen.

 

Warum ausgerechnet jetzt? – Wie Spezialinteressen bei mir beginnen

 

Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Menschen in meinem Leben schon lachend gesagt haben:
„Du hast aber wirklich ständig ein neues Hobby.“

Und jedes Mal möchte ich antworten:
„Nein. Ich habe kein neues Hobby. Ich habe eine spontane, neurobiologische Notwendigkeit.“

Denn bei mir beginnt ein Spezialinteresse nicht wie bei anderen Menschen – also gemütlich, geplant oder „weil ich mal etwas Neues ausprobieren wollte“.
Nein.
Bei mir setzt es ein wie ein Funkenflug im Dopamin-Motor.

Es passiert ADHS-typisch spontan: ohne Vorwarnung, ohne Logik, manchmal mitten im Alltag, manchmal, wenn ich schon längst zu etwas anderem verpflichtet wäre.
Und genau dann springt mein Gehirn an wie ein Motor, der endlich das richtige Gemisch bekommen hat.
Es klickt.
Es rauscht.
Und dann geht’s los.

Meist fängt es damit an, dass ich mich eigentlich von etwas ablenken müsste – eine innere Unruhe, ein unangenehmes Gefühl, eine Überforderung, ein Stressfaden, der im Hintergrund zieht.
Und in genau diesen Momenten öffnet mein Gehirn ein Fenster, das vorher nicht da war, und sagt:

„Oh! Das da! Das könnte ich komplett auseinandernehmen und innerhalb von drei Stunden zum Experten-Level bringen.“

Und ich?
Ich springe rein.

Nicht vorsichtig.
Nicht Schritt für Schritt.
Sondern im Sturzflug.

Ich schaue Videos.
Ich lese Artikel.
Ich sammele Fachwissen.
Ich entwickle innerhalb von Minuten konkrete Projekte, Zielsetzungen, mögliche Ergebnisse.
Ich stelle mir vor, was theoretisch möglich ist – und das ist viel.
Sehr viel.
Zu viel.

Und genau deshalb fühlt es sich für mich nicht wie „ein neues Hobby“ an, sondern wie ein Evolutionsprojekt.
Ich tauche so tief ein, dass ich mich manchmal selbst frage, wie viele Gehirne ich eigentlich parallel betreibe.

Und während andere den Kopf schütteln, weil ich „schon wieder etwas Neues mache“, passiert in mir Folgendes:

Ich spüre totale Begeisterung.
Druck.
Getriebenheit.
Ein Ziehen im Brustkorb, das sagt:
Mach. Weiter. Jetzt.

Und wehe, jemand versucht, mich in diesem Zustand zu bremsen.
Ein Satz wie:
„Ist das wirklich sinnvoll?“
kann bei mir eine innere Explosion auslösen.

Nicht, weil ich trotzig bin.
Sondern, weil mein PDA-System in diesem Moment die Kontrolle über meine Aufmerksamkeit verliert.
Weil mein Gehirn spürt, dass mir jemand gerade etwas wegnehmen will, das ich brauche, um reguliert zu bleiben.

Unterstützung dagegen?
Gold.
Bindungsstärkend.
Regulationsstabilisierend.

Wenn jemand sagt:
„Boah, wie spannend! Erzähl mal!“
dann liebe ich diesen Menschen sofort ein kleines bisschen mehr.

Es sind dieselben Mechanismen, die bei Kindern mit PDA-Profil beobachtet werden: Begeisterung als Zugang, Autonomie als Motor, Tiefgang als Regulation.
Nur dass ich erwachsen bin und gelernt habe, es gut verpackt „Hobby“ zu nennen.

In Wahrheit sind es keine Hobbys.
Es sind temporäre Welten, in die ich eintauche, um mein Nervensystem zu synchronisieren.

Und genau da beginnt die Geschichte –
nicht mit Basteln, Nähen, 3D-Druck oder Sport.
Sondern mit einem Gehirn, das sagt:
„Ich brauche das jetzt. Und zwar sofort.“


Warum ich nicht „neugierig“ bin, sondern neurobiologisch fremdgesteuert – Die Wissenschaft hinter dem Spezialinteressen-Hopping

 

Wenn neurotypische Menschen mich beobachten, während ich in ein neues Thema hineinstürze, denken sie oft:
„Oh, die hat aber viele Hobbys.“

Was sie nicht wissen:
Das, was sie Hobby nennen, ist in meinem Gehirn ein kompletter neurobiologischer Prozess, der sich wie ein Sturzflug auf ein neues Universum anfühlt.

Und um das zu verstehen, muss man drei Dinge kennen:
ADHS-Dopamin, Autismus-Tiefgang und PDA-Autonomie.

Denn diese Kombination ist keine „bunte Mischung“.
Es ist ein Trio-Infernal, das mein Spezialinteressen-Hopping nicht nur erklärt –
sondern regelrecht erzwingt.

 

  1. ADHS-Dopamin – der Motor

ADHS ist kein Konzentrationsmangel.
Es ist ein Dopamin-Mangel, und mein Gehirn behandelt jedes neue Thema, das interessant genug ist, wie eine frisch geladene Batterie.

Wenn mich etwas plötzlich fasziniert, passiert neurochemisch Folgendes:

  • Der Dopaminspiegel schießt hoch
  • Der präfrontale Kortex (der sonst so schwächelt) jubelt
  • Mein Gehirn ruft laut: „ENDLICH TREIBSTOFF!“

Und ich gehe in den sogenannten Hyperfokus.

Nur – und das ist entscheidend –
Hyperfokus funktioniert nicht auf halber Flamme.

Wenn ich mich begeistere, dann tief,
dann überintellektualisiert,
dann obsessiv,
dann kompetenzorientiert.

Ich fange nichts an, ich werde alles.

 

 2. Autismus – der Tiefseemodus

Während ADHS mich anspringen lässt wie ein Flummi auf Koffein, ist der autistische Teil meines Gehirns das Gegenteil:
Er will Tiefe. Muster. Systeme. Strukturen.

Er will nicht „ein bisschen lernen“.
Er will nicht „mal reinschauen“.
Er will:

  • verstehen
  • durchdringen
  • analysieren
  • beherrschen

Ich werde nicht „interessiert“.
Ich werde zu einem wandelnden Fachartikel.

Und das bedeutet:
Wenn ich ein neues Spezialinteresse habe, dann setze ich mich nicht hin und probiere etwas aus.
Ich studiere es.

Ich recherchiere stundenlang.
Ich schaue Videos, bis YouTube denkt, ich sei im einschlägigen Beruf.
Ich lese wissenschaftliche Artikel, bis ich selbst das Gefühl habe, ich könnte sie mitverfassen.

Und genau deshalb wirke ich nach sechs Stunden wie jemand,
der das Thema seit drei Jahren praktiziert.

 

  1. PDA – das Autonomie-Feuer

Und dann ist da das PDA-Profil.
Das kleine, unscheinbare Detail meiner Neurodivergenz,
das im Alltag so wirkt wie ein störrischer Kobold im Kopf,
der bei jeder Form von „du solltest“ fauchend die Wände hochgeht.

PDA bedeutet:

✔ Ich brauche Autonomie, um handlungsfähig zu sein
✔ Ich brauche Begeisterung, um loslegen zu können
✔ Ich brauche Freiheit, um in die Tiefe zu können
✔ Und wehe, jemand mischt sich ein

Wenn jemand sagt:
„Du machst das wieder nicht lange…“
oder
„Lass das lieber, das lohnt sich nicht…“

… dann ist mein System sofort im Widerstand,
und das Projekt wird für mich plötzlich emotional überlebenswichtig.

Nicht, weil es objektiv wichtig wäre.
Sondern weil mein Nervensystem in dem Moment sagt:

„Das hier mache ICH. Und zwar genau WEIL du glaubst, dass ich es nicht tue.“

Spezialinteressen sind für Menschen mit PDA nicht einfach Interessen.
Sie sind eine Regulationsform.
Sie geben:

  • Struktur
  • Autonomie
  • Kompetenz
  • Kontrolle
  • Vorhersehbarkeit

Es ist also kein „Hobby-Hopping“.
Es ist Überlebenstechnik.


Und die Mischung daraus?

 

Stell dir vor:

ADHS zündet.
Autismus vertieft.
PDA verteidigt.

Das Ergebnis ist:
Spezialinteressen-Hopping – aber auf Expertinnen-Niveau.

Ich bin kein „jemand, der ständig neues Zeugs anfängt“.
Ich bin eine Skill-Sammlerin, eine Dopamin-Archäologin, eine neurodivergente Forschungsmaschine, die nur leider keinen Ausschaltknopf besitzt.

Und das ist keine Übertreibung.
Das ist mein Alltag.


Die Dopamin-Achterbahn – von Hochleistung zu „Warum bin ich so?“

 

Es gibt eine Phase, die jedes meiner Spezialinteressen durchläuft.
Und obwohl ich sie inzwischen auswendig kenne, fühlt sie sich jedes Mal an wie die erste.
Wie ein vertrauter Film, den mein Gehirn jedes Mal erlebt, als wäre es die Premiere.

Man könnte es „Phasen eines neurodivergenten Spezialinteresses“ nennen.
Ich nenne es:
Das Dopamin-Meteoriten-Einschlags-Protokoll.


Phase 1: Der Einschlag – Begeisterung, Antrieb, Genie-Modus

 

Es passiert immer gleich.
Ein Thema ploppt auf.
Irgendwas in meinem Kopf klickt.
Ein Video, ein Satz, eine Szene, ein Gedanke.

Und plötzlich sitze ich da, als hätte jemand das Licht angeknipst.
Der Motor läuft.
Die Getriebenheit setzt ein.
Ich spüre die Energie nicht nur — ich werde sie.

Ich denke schneller, als ich tippen kann.
Ich recherchiere, bis der Algorithmus mich für einen Profi hält.
Ich konsumiere Inhalte in einer Geschwindigkeit, für die man eigentlich Sportlerpreise vergeben sollte.

Und in diesen Momenten bin ich:

  • hyperkompetent
  • diszipliniert
  • ein wandelndes Fachlexikon
  • bereit, ein Startup zu gründen
  • überzeugt, dass ich das Thema zu meinem neuen Lebensinhalt machen könnte

Wenn mich jemand in dieser Phase unterstützt, verstärkt das meine Bindung sofort.
Wenn mich jemand ausbremst, werde ich fuchsteufelswild.
Nicht, weil ich stur bin —
sondern weil mein Nervensystem sagt:

„Bitte nicht. Das hier hält mich gerade zusammen.“

Es ist kein Hobby.
Es ist Regulation.
Es ist emotionale Notfallmedizin.


Phase 2: Die Stille nach dem Sturm – Das abrupte Kippen

 

Und dann — absolut ohne Vorwarnung — kippt es.

Einer meiner größten Internetsuchen könnte lauten:
„Warum verliere ich plötzlich jedes Interesse an etwas, das gestern noch mein Lebenszweck war?“

Es fühlt sich an, als würde jemand den Stecker ziehen.

Von 200% Kompetenz auf… nichts.
Keine Energie.
Keine Faszination.
Kein Zugang.

Ein Gefühl wie:
„Ich will, aber ich kann nicht.“
oder schlimmer:
„Ich kann nicht einmal wollen.“

Und genau hier beginnt der Teil, der weh tut.


Phase 3: Der Absturz – Scham, Schuld, Selbstabwertung

 

Sobald das Interesse weg ist, beginnt mein Kopf zu sprechen.

  • „Warum ziehst du nichts durch?“
  • „Du hättest längst viel weiter sein können.“
  • „Guck dir die ganzen Materialien an… wie viel Geld da drin steckt.“
  • „Wieder ein Projekt nicht beendet.“

Ich gehe dann einen riesigen Bogen um alles, was mit diesem Thema zu tun hat.

Sehe ich das Equipment, fühle ich mich schuldig.
Sehe ich die Bücher, fühle ich mich schlecht.
Denke ich an die Ziele, werde ich traurig.

Ich trauere jedes Spezialinteresse, als hätte ich eine Beziehung verloren.

Und das ist kein Witz —
ich habe um Hobbys emotional intensiver getrauert als um so manchen Menschen.

Es fühlt sich an wie Versagen.
Wie Verlust.
Wie Schwäche.

Dabei ist es eigentlich Neurobiologie.


Phase 4: Die Rückkehr – Der Kreislauf beginnt neu

 

Das Schönste — und gleichzeitig Absurde — ist:

Alles kehrt zurück.

Immer.
Jedes Spezialinteresse macht irgendwann eine zweite, dritte, zwölfte Runde.

Nähen.
Häkeln.
Polnisch.
Stricken.
Mandalas.
Plotten.
Bügelperlen.
Sport.
Sprachen.
Heimwerken.
Exzessiv putzen/ aufräumen (ja, sogar das).
Mein Nagelding sowieso. 18 Jahre, ohne Zucken.

Im Grunde Alles, was Kreativität, Geschick und Technik erfordert.

Meine Welt ist zyklisch.
Meine Interessen schlafen, sie sterben nicht.

Und genau das macht mich nicht instabil —
es macht mich vielbegabt, flexibel, anpassungsfähig, kreativ, explosiv klug.

Ich bin keine Person, die Dinge „nicht durchhält“.
Ich bin eine Person, deren Gehirn in Wellen arbeitet.

Und jede Welle bringt mich weiter.


Warum Druck alles zerstört – Zwangsmodus vs. Begeisterungsmodus

 

Wenn es etwas gibt, das mein neurodivergentes Nervensystem schneller vernichtet als ein schlecht geplanter Wochenplan, dann ist es Druck.
Und mit Druck meine ich jede Form von:

  • „Kannst du das bitte für mich machen?“
  • „Du bist doch so gut darin!“
  • „Jetzt hör doch nicht schon wieder auf.“
  • „Mach das doch mal zu Ende.“

Oder mein absoluter Favorit:

„Aber du warst doch so begeistert!“
Ja.
War.
Vergangenheit.
Tot.
Begraben.
Danke fürs Drauftreten.

Man muss verstehen:
Bei PDA funktioniert Begeisterung wie eine Energiequelle –
aber Erwartung ist ein Stromausfall.

Es gibt in mir zwei Modi:

  1. Begeisterungsmodus:
    – Ich bin ein Feuerwerk.
    – Ich funktioniere wie ein Team aus 6 FliWi-Versionen.
    – Ich fühle mich unbesiegbar, schön, intelligent, göttlich.
    – Ich mache Fortschritte, von denen neurotypische Menschen vermuten würden, dass ich monatelang daran saß.
  2. Zwangsmodus:
    Fehler 404: Motivation not found.
    – Plötzlich fühlt sich selbst das, was ich liebe, an wie ein riesiger Betonklotz.
    – Jede Bitte klingt wie „Mach deine eigene Begeisterung kaputt“.
    – Jede Erwartung löst einen unmittelbaren Wahnsinnsreflex aus.
    – Das gesamte System fährt runter wie ein Windows-98-Rechner beim Stromausfall.

Und dieser Schalter passiert sofort.
Nicht langsam.
Nicht subtil.
Es ist ein innerer Knacks, den ich selbst höre, bevor er überhaupt stattgefunden hat.

Warum ist das so?

Weil PDA nicht bedeutet, dass man „keinen Bock“ hat.
PDA bedeutet:

„Ich kann nur funktionieren, wenn ich frei bin.“

Jede Handlung, die muss, verliert ihren Reiz.
Jede Tätigkeit, die sollte, verliert ihre Bedeutung.
Und jede Arbeit, die jemand anderes von mir will, macht mein Nervensystem dicht wie ein Staudamm in der Regenzeit.

Deshalb sagen Menschen oft Dinge wie:

„Du bist so vielbegabt!“
und das funktioniert, weil es ein Kompetenzsignal ist.

Aber ein „Mach doch mal weiter!“?
Das ist wie zu sagen:
„Hey, würdest du mir zuliebe dein Nervensystem in eine brennende Mülltonne halten?“

Was die meisten nicht wissen:

Ich hasse es, wenn Menschen mich bitten, mit meinen Fähigkeiten etwas für sie zu tun.
Nicht, weil ich geizig bin.
Nicht, weil ich egoistisch bin.
Sondern weil jede erwartete Handlung sich anfühlt wie ein Knoten im Gehirn.
Etwas, das mich lahmlegt, mich blockiert, mich einer Autonomie beraubt, die ich brauche, um überhaupt handeln zu können.

Wenn ich etwas schenke, etwas aus Liebe mache, etwas freiwillig produziere —
dann bin ich großartig.
Warm. Kreativ. Voll drin.
Dann kann ich stundenlang versinken und es fühlt sich nach Magie an.

Aber sobald jemand sagt:
„Ich bräuchte das bis Donnerstag“
… hängt mein Hirn wie ein toter Vogel auf dem Rücken.

Die Menschen in meinem Umfeld haben das längst verstanden.
Sie drängen nicht.
Sie erwarten nicht.
Sie staunen einfach und sagen Dinge wie:

  • „Ich liebe, wie du lernst.“
  • „Du bist so talentiert.“
  • „Ich finde es Wahnsinn, wie schnell du Dinge begreifst.“
  • „Ich beneide deine Vielseitigkeit.“

Und plötzlich kann ich wieder.

Nicht, weil ich Lob brauche,
sondern weil Begeisterungsmodus nur bei emotionaler Freiheit möglich ist.

Ich bin nicht unzuverlässig.
Ich bin nicht sprunghaft.
Ich bin nicht orientierungslos.

Ich bin ein autonomiegetriebener Hochleistungsmotor, der nur läuft, wenn niemand am Lenkrad mitdreht.

Und das ist kein Defizit.
Das ist Neurobiologie.


Ich bin keine Chaotin – ich bin ein Skill-Sammler

 

Manchmal sehe ich Menschen, die mit ihren zwei, drei Hobbys durchs Leben spazieren, alles schön linear, klar priorisiert, stabil über Jahre hinweg – und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich das verstehe.

Ich funktioniere nicht linear.
Ich funktioniere zirkulär.
Ich funktioniere spiralförmig.
Und ich funktioniere multipotent.

Ich bin keine Chaotin.
Ich bin ein Skill-Sammler.

Die Wahrheit ist:
Ich lerne schneller, tiefer und breiter als viele Menschen es jemals müssten – und zwar nicht, weil ich „hyperaktiv“ oder „sprunghaft“ bin, sondern weil mein Gehirn so gebaut ist.
Mein Hobby ist Lernen.
Immer gewesen.
Und es ist das einzige Hobby, das nie kippt.

Wenn sich ein Spezialinteresse öffnet, werde ich zur Expertin, bevor andere überhaupt verstanden haben, wie man das Wort schreibt.
Ich brauche keine zehn Monate.
Ich brauche zehn Videos, drei wissenschaftliche Artikel, zwei Nächte und eine Tasse Kaffee.
Dann verstehe ich Systeme so, wie andere Menschen ihre Küchenabläufe verstehen.

Aber das bedeutet nicht, dass meine alten Interessen verschwinden.
Sie schlafen.
Sie falten sich ein wie ein Protein, das auf ein neues Milieu wartet.
Ich vergesse nichts.
Ich deaktiviere es nur, bis mein Dopamin sagt:
„Reaktivieren!“
Und dann funktioniert alles wieder –
Motorik, Wissen, Muster, Fertigkeiten –
als wäre keine Zeit vergangen.

Genau deshalb werde ich nie eine Person sein, die „bei einer Sache bleibt“.
Ich bleibe bei vielen Dingen –
nur eben nacheinander in Wellen.
Mein Gehirn ist kein Schrank.
Es ist eine Bibliothek mit beweglichen Wänden.

Und ja – das hat Auswirkungen.

  1. Für mein Kind:
    Mein Sohn ist wie ich.
    Dass sein Spezialinteressen-Hopping so schnell wechselt, liegt nicht an „Marotten“, „Phasen“ oder „unstetem Verhalten“.
    Es ist Neurologie.
    Es ist PDA-Logik.
    Es ist vererbt – genau wie seine Fähigkeit, tief in Dinge einzutauchen und sie genauso abrupt wieder loszulassen.
    Er funktioniert wie ich: zyklisch lernend, autonomiebasiert regulierend.
    Und genau deshalb kann ich ihn heute verstehen, wie man ein eigenes Echo versteht.
  2. Für meine Vergangenheit:
    Manche haben dieses System nie verstanden.
    Für sie war alles, was nicht linear blieb, „fehlende Disziplin“, „Unzuverlässigkeit“, „Drama“ oder „Launenhaftigkeit“.
    Sie sahen Chaos.
    Ich war Kompetenz in Spiralen.
  3. Für meinen Lieblingsmenschen:
    Er ist der Erste, der meinen Skill-Orbit nicht nur erkennt, sondern nachvollziehen kann.
    Vielleicht, weil er selbst so denkt.
    Vielleicht, weil er mein Gegenstück auf der anderen Seite derselben Neurodivergenz ist.
    Er bewertet nicht, wenn ich umschalte.
    Er beobachtet.
    Er versteht.
    Er freut sich sogar, weil er sieht, wie lebendig mein Gehirn ist, wenn es auf Hochtouren läuft.

Ich bin also keine Person, die zu viel anfängt.
Ich bin eine Person, die viel kann.
Ich bin keine Chaotin.
Ich bin hochfunktionale Wissensarchitektur.

Und mein Spezialinteressen-Hopping?
Das ist kein Fehler –
das ist meine Art, die Welt zu sortieren.


 

Das Kind in mir – und das Kind, das mich spiegelt

 

Es gibt Momente im Leben, in denen man nicht nur sein Kind sieht, sondern sich selbst — in klein, in roh, in unverfälscht.
Und jedes Mal, wenn ich den kleinen beobachte, wie er in ein neues Thema hineinspringt, wie sein Herz brennt und sein Kopf funkt, wie er in drei Minuten alles über irgendeine Sache wissen will, fühle ich diese Mischung aus Staunen und Wiedererkennen.

Er ist wie ich.
Nicht „ähnlich“.
Nicht „ein bisschen so wie“.
Sondern wie ein Spiegel, der mich in einer Sprache reflektiert, die ich selbst jahrzehntelang nicht sprechen durfte.


Warum seine Spezialinteressen schneller wechseln als meine früher

 

Kinder mit PDA-Profil haben ein Nervensystem, das nicht nur autonomiegesteuert ist —
es ist hyperautonomiegesteuert.

Was bei mir heute als Erwachsene Stunden oder Tage hält, kann bei einem PDA-Kind innerhalb weniger Stunden kippen.
Nicht, weil er unernst ist.
Nicht, weil er „nie etwas durchzieht“.
Sondern, weil sein System noch viel schneller zwischen:

  • Begeisterung → Regulation
  • Überforderung → Flucht
  • Neugier → Kontrollverlust

umschaltet.

PDA-Kinder leben im Takt ihrer eigenen inneren Dringlichkeit. Und wer versucht, sie festzuhalten, verliert sie — nicht emotional, sondern neurologisch.
Das habe ich erst verstanden, als ich mich selbst erkannt habe.


Warum Eltern oft denken, es seien „Marotten“

 

Ich habe diesen Satz früher so oft gehört — über mich wie über über mein Kind:

„Ach, das ist wieder so eine Phase.“

Nein.
Es ist keine Phase.
Es ist ein Regulationsfenster.

Das, was viele als Laune, Marotte, Tick, Spinnerei bezeichnen, ist in Wahrheit:

  • Entwicklung
  • Stressabbau
  • Autonomieerhalt
  • Dopamin-Selbstmedizin
  • Überlebensstrategie

Kinder mit einem PDA-Profil „spielen“ kein Spezialinteresse.
Sie brauchen es.


Warum ich heute verstehe, was ich früher gebraucht hätte

 

Ich hätte gebraucht, was ich in Liebe heute gebe:

  • Verständnis statt Bewertung
  • Interesse statt Abwertung
  • Raum statt Zwang
  • Möglichkeiten statt Regeln
  • Erklärungen statt Druck

Ich hätte gebraucht, dass jemand sagt:

„Du übernimmst dich nicht — dein Gehirn arbeitet nur anders.“

Und genau das sage ich ihm heute.
Nicht wörtlich, natürlich.
Aber mit jedem Blick, jeder Reaktion, jedem „Alles gut, such dir aus, was du brauchst“.


Warum ich ihn nicht mehr zwingen kann, wenn es kippt

 

Wenn bei Mini-Me der Schalter fällt, fällt er. Punkt.Ich kann ihn nicht festhalten, nicht zurückziehen, nicht überreden.

Ich erkenne das an seiner Mimik —
an diesem winzigen Flackern zwischen Überforderung und Rückzug.
Ich erkenne es, weil ich es selbst habe.

Und deshalb sage ich heute nicht mehr:

„Komm, mach weiter.“

Sondern:

„Okay, wir hören auf. Was brauchst du jetzt?“

Das ist Regulation.
Das ist Bindung.
Das ist PDA-Kompetenz im Alltag.


Wie ich seine Regulation heute unterstütze

 

Ich begleite, ohne zu führen.
Ich öffne Türen, ohne ihn hindurchzuschieben.
Ich erweitere Möglichkeiten, ohne Erwartungen zu formulieren.

Ich sage oft:

„Du kannst — aber du musst nicht.“

Und das ist die Zauberformel für PDA-Kinder.

Denn sie brauchen nicht Führung.
Sie brauchen sichere Ko-Autonomie.

Er ist kein Chaoskind.
Er ist kein „Phasen-Kind“.
Er ist ein neurologischer Spiegel meiner eigenen Kindheit — nur mit der Mutter, die ich früher gebraucht hätte, die all dieses Wissen auch hätte haben sollen.

Und genau deshalb fühlt sich dieses Kapitel unseres Lebens nicht chaotisch an.
Sondern heilend.

Hier möchte ich eines klar sagen: Diagnosen können Leben verändern.
Nicht, weil sie Probleme schaffen — sondern weil sie endlich erklären, was lange unverständlich war.
Manchmal beginnt Heilung genau in dem Moment, in dem man einen Namen für sein Erleben bekommt.


Das große Ganze – warum Spezialinteressen-Hopping keine Störung ist, sondern ein Überlebensmechanismus

 

Es gibt einen Satz, den neurotypische Menschen niemals wirklich begreifen, egal wie oft man ihn erklärt:
Mein Gehirn macht Dinge nicht, weil es kompliziert ist,
sondern um zu überleben.

Und genau das gilt für mein Spezialinteressen-Hopping.

Viele glauben, wechselnde Interessen seien ein Zeichen von Sprunghaftigkeit, fehlender Ausdauer oder „wieder so eine ADHS-Sache“.
Aber in Wahrheit ist es viel größer:
Es ist ein neurobiologisches Sicherheitsprogramm.
Ein hochkomplexes Zusammenspiel aus Dopamin, ARAS, und PDA-Autonomie.

Wenn man versteht, warum Spezialinteressen passieren, sieht alles sofort anders aus.


Dopamin – der Brennstoff

 

Mein ADHS sorgt dafür, dass mein Gehirn permanent nach Input sucht, der stark genug ist, um den niedrigen Dopaminspiegel auszugleichen.
Nicht, weil ich „gierig“ oder „unruhig“ bin,
sondern weil mein System sonst nicht stabil bleibt.

Spezialinteressen erzeugen Dopamin.
Dopamin erzeugt Fokus.
Fokus erzeugt Regulation.
Regulation erzeugt Stabilität.

Es ist ein Kreislauf – aber kein Chaos.


ARAS – der Aufmerksamkeitsfilter, der anders tickt

 

Das ARAS (Aufsteigendes Retikuläres Aktivierungssystem) entscheidet darüber, wie wach, aufmerksam und reizoffen ein Mensch ist.

Bei neurotypischen Menschen fährt es bei Ruhe runter.
Bei mir fährt es hoch.

Stillstand bedeutet für mein Nervensystem:
„Achtung, Gefahr. Zu wenig Reize. Fehlende Orientierung.“

Bewegung – mental oder körperlich – schafft Sicherheit.

→ Deshalb brauche ich neue Themen.
→ Deshalb kann ich nicht „ruhig bleiben“.
→ Deshalb beruhigt mich tiefer Input.

Mein System reguliert sich durch Aktivierung – nicht durch Entspannung.


PDA – das Kontrollsystem hinter den Kulissen

 

PDA ist kein Trotz.
PDA ist ein autonomiebasiertes Stresssystem, das Freiheit braucht, um funktionieren zu können.

Spezialinteressen geben mir Autonomie über:

  • Fokus
  • Tempo
  • Tiefe
  • Bedeutung
  • Richtung

Es sind keine „Hobbys“.
Es sind sichere Räume, die mein Nervensystem sich selbst baut.

Ohne sie würde ich kippen.


Warum ich nicht „wechsle“, sondern wachse

 

Von außen wirkt es wie ständiges Neuanfangen.
Von innen ist es etwas völlig anderes:

Ich erweitere ein System.
Ich sammle Fähigkeiten, Muster, Wissensklumpen.
Ich lerne spiralförmig – nicht linear.

Ich komme nicht an denselben Punkt zurück.
Ich komme an eine höhere Ebene davon.

Jedes Spezialinteresse ist eine Welle.
Und jede Welle trägt mich weiter.

Spezialinteressen-Hopping ist kein Zeichen von Instabilität.
Es ist ein Zeichen von neurodivergenter Kompetenz.
Ein eingebautes Resilienzsystem.
Eine Überlebensstrategie.

Je mehr ich darüber weiß, desto klarer wird mir:

Ich bin nicht unruhig.
Ich bin nicht chaotisch.
Ich bin nicht flatterhaft.

Ich bin ein Hochleistungs-Scanner.
Ein System aus tiefer Intelligenz, schneller Mustererkennung und neurobiologischer Selbstrettung.

Mein Gehirn arbeitet nicht gegen mich.
Es arbeitet für mich.


Fazit – Ich bin kein Flummi. Ich bin ein Orbital.

 

Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich nicht „zu viel“ bin.
Nicht „zu schnell“.
Nicht „chaotisch“.
Nicht „sprunghaft“.
Sondern: anders gebaut. Anders verdrahtet. Anders sinnvoll.

Lange glaubte ich, ich wäre ein Flummi – etwas, das unkontrolliert durch die Gegend springt, impulsiv, richtungslos, schwer zu greifen.
Weil andere mir dieses Bild gegeben haben.
Weil sie nie sahen, was IN mir eigentlich passiert.

Doch heute weiß ich:
Ich hüpfe nicht. Ich kreise.

Ich funktioniere nicht planlos, sondern orbital.
Ich ziehe Bahnen um Themen, so wie Planeten um ihre Sonne.
Ich entferne mich, tauche wieder auf, komme zurück, wenn der Zyklus neu beginnt –
und jedes Mal bin ich weiter, tiefer, genauer als vorher.

Ich verlasse nichts.
Ich erweitere alles.

Spezialinteressen sind keine Launen.
Es sind Umlaufbahnen.
Ich sammle Skills wie andere Jahreszeiten, und jedes Mal, wenn etwas „verschwindet“,
zieht es sich nur zurück, um später mit neuer Bedeutung wiederzukehren.

Ich bin kein Mensch, der Dinge liegen lässt.
Ich bin ein Mensch, der Fähigkeiten hortet und sie rotiert,
je nachdem, welche mein Nervensystem gerade braucht,
um zu funktionieren, zu überleben, zu heilen.

Und vielleicht ist das das Schönste daran:
Dass ich endlich aufhöre, mich dafür zu schämen, wie mein Gehirn arbeitet –
und beginne, es als Geschenk zu sehen.

Ich bin kein Flummi.
Ich bin ein Orbital.
Und jedes Spezialinteresse, das ich jemals hatte,
war nur ein weiterer Stern in meinem System.


Wenn du dich in meinen Worten wiederfindest …

 

… wenn dein Gehirn auch keine Hobbys hat, sondern ganze Evolutionsprojekte erschafft –
… wenn du Spezialinteressen nicht anfängst, sondern sie dich finden –
… wenn du dich fragst, ob du „zu viel“ bist, während du in Wahrheit einfach neurologisch richtig funktionierst –

dann erzähl mir deine Geschichte.

Welche Themen haben dich schon verschluckt?
Woran bist du gewachsen?
Welche Wellen hat dein Gehirn gebaut – und welche kommen jedes Jahr zurück?

Schreib mir in die Kommentare oder auf Instagram.
Ich lese jede Nachricht. Wirklich jede.
Du bist nicht allein damit.
Wir sind viele – wir sind nur nicht linear.

Herzlich,
FliWi

 


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