© Lisa Widerek 2025 · Urlaub – das klingt nach Erholung. Für uns bedeutet es: Planung, Kompromisse und ganz viel Feingefühl. Ein ehrlicher Bericht über das Reisen mit neurodivergenter Familie – und warum es manchmal weniger braucht, um mehr zu erleben.

Wenn der Urlaub im Kopf beginnt
„Ich freu mich auf den Urlaub.“
„Ich will da nicht hin.“
„Warum haben wir das denn nicht so gemacht, wie ich wollte?!“
Willkommen in unserem ganz normalen Vor-Urlaubsmodus. Bei uns beginnt der Urlaub nicht im Auto – sondern im Nervensystem.
Ich habe ein PDA-Profil. Mein Sohn auch. Und wenn ich sage, dass „Urlaub“ bei uns ein komplexes Projekt ist, dann meine ich nicht die Buchung. Sondern die emotionale Vorbereitungszeit. Die Planungslogik. Die Entscheidung, was möglich ist – ohne dass jemand implodiert, explodiert oder sich komplett verweigert.
Denn: Was für viele wie „Erholung“ klingt, bedeutet für uns oft Kontrollverlust, Reizüberflutung und emotionale Ausnahmesituationen.
Das beginnt schon Wochen vorher – wenn erste Gespräche über den Urlaub anstehen. Sobald das Wort fällt, geht ein inneres System auf Alarm. Nicht, weil wir keine Lust hätten. Sondern weil unser Gehirn auf mögliche Anforderungen scannt: neue Umgebung, unklare Abläufe, viele Entscheidungen, keine Fluchtroute. Alles, was für andere nach Abwechslung klingt, heißt für uns: Verlust von Sicherheit.
Ich merke es bei meinem Sohn, wenn er erst euphorisch ist – und dann wütend wird, weil die Entscheidung für ein Ziel nicht von ihm allein getroffen wurde. Ich merke es bei mir, wenn ich plötzlich das Gefühl habe, nichts mehr zu wollen – obwohl ich mich doch vor drei Tagen noch gefreut habe. Dieses emotionale Wechselspiel ist kein Hin und Her, sondern ein innerer Drahtseilakt zwischen Vorfreude und Überforderung.
Und genau deshalb braucht unser Urlaub nicht nur Koffer, sondern emotionale Landkarten. Wir müssen vorher schon wissen, was im schlimmsten Fall passieren könnte – damit es uns nicht überrollt. Wir brauchen Optionen, Rückzugsmöglichkeiten und ein tiefes Verständnis füreinander. Denn Urlaub heißt für uns nicht nur Ortswechsel – sondern Systemwechsel. Und der braucht Vorbereitung.
Was ist PDA – und warum macht es Reisen so herausfordernd?
PDA steht für Pathological Demand Avoidance – ein Profil innerhalb des Autismus-Spektrums, bei dem Anforderungen jeglicher Art als bedrohlich empfunden werden können. Und ja, das gilt auch für positive Dinge. Selbst scheinbar schöne, freiwillige oder alltägliche Situationen können bei Menschen mit PDA Stress auslösen – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil ihr Nervensystem auf jede Form von Erwartung empfindlich reagiert.
Kinder mit PDA sind oft extrem kreativ, sozial interessiert, tief einfühlsam – sie spüren viel, denken viel, wollen viel. Aber sie haben gleichzeitig eine sehr feine Wahrnehmung für Machtausübung und Kontrolle – sogar in sehr subtilen Formen. Selbst bei einem freundlich gemeinten Satz wie „Wir fahren heute an den See“ kann innerlich eine Stresskaskade losgehen. Warum? Weil die Formulierung ein müssen impliziert. Und PDA reagiert nicht auf Inhalte – sondern auf das Gefühl von Kontrolle.
Und plötzlich entsteht dieser innere Konflikt:
Ich will das doch eigentlich – aber ich will nicht, dass jemand von mir erwartet, dass ich es will.
Das klingt paradox. Ist aber Alltag. Und es macht Reisen besonders schwierig – weil Reisen immer Pläne enthält. Immer Vorstellungen. Immer Tagesabläufe, Uhrzeiten, Kofferpacken, Wetterberichte, Entscheidungen.
Was bei anderen Kindern als „Vorfreude“ erlebt wird, kann bei PDA-Kindern in Stress, Trotz, Flucht oder sogar Aggression kippen. Nicht, weil sie keine Lust haben – sondern weil sie nicht damit umgehen können, dass jemand anderes die Bedingungen bestimmt.
Die Freude auf den Urlaub kippt in Wut, wenn das Zelt aufgebaut ist – weil man es sich anders vorgestellt hat oder nicht gefragt wurde. Der Wunsch nach Abenteuer verwandelt sich in Rückzug, wenn die Entscheidung zu schnell oder zu deutlich von außen kam. Und selbst die Aussicht auf den Lieblingsstrand kann ein inneres „Nein“ auslösen, wenn es plötzlich heißt: „Jetzt zieh die Schuhe an, wir gehen los.“
PDA heißt nicht: Ich will nicht.
PDA heißt: Ich kann gerade nicht, weil mein Nervensystem Alarm schlägt.
Und das zu verstehen, ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einem entspannten Urlaub – nicht nur für das Kind, sondern für die ganze Familie.
Übergänge – Wenn der Weg das eigentliche Problem ist
Bei uns scheitert der Urlaub selten am Ziel – sondern fast immer am Dazwischen.
Der Moment, in dem man vom Frühstückstisch aufbrechen soll. Die halbe Stunde zwischen „wir gehen gleich los“ und „jetzt müssen wir aber wirklich“. Das Eincremen vor dem Strand. Der Weg vom Zelt zur Dusche. Die Rückkehr vom See. Der Abschied vom Lieblingsort. Jeder Wechsel ist ein Mikrowechsel – und für viele neurodivergente Menschen, vor allem mit PDA, bedeutet das: innerer Alarmzustand.
Diese Übergänge wirken auf Außenstehende banal. Doch im Erleben sind sie wie ein freier Fall zwischen zwei Zuständen – ohne Boden, ohne Geländer, ohne klares Ende.
Das Nervensystem verliert den Takt.
Stattdessen beginnt ein inneres Stolpern: man kann sich nicht lösen, nicht starten, nicht entscheiden. Oder alles gleichzeitig. Es wird getrödelt, verweigert, diskutiert, gelacht, gebockt, geweint. Und oft wechselt alles im Sekundentakt. Nicht aus Trotz – sondern aus Notwehr gegen das Gefühl, keine Kontrolle über das eigene Tempo zu haben.
Besonders schwierig sind Übergänge, die von außen gesetzt werden – wie z. B. „Jetzt ist Schlafenszeit“, „Jetzt gehen wir essen“, „Jetzt ist Schluss mit Spielen“. Auch schöne Dinge wie „Jetzt gehen wir in die Therme“ oder „Jetzt kommt dein Lieblingseis“ können aus dem Nichts kippen – weil der Übergang abrupt ist. Weil das System gerade woanders war. Weil die eigene Entscheidung nicht vorkam.
Ich kenne das von mir selbst: Manchmal kann ich nicht aufstehen, auch wenn ich es will. Ich brauche dann erst innerlich ein „Bereit“-Gefühl – sonst bleibt alles in mir auf Pause. Und mein Sohn ist genauso. Wenn ich sage: „Wir müssen jetzt los“, bricht alles zusammen. Wenn ich sage: „Ich zieh mich jetzt an, du kannst ja langsam mitkommen“, funktioniert es oft.
Was hat uns geholfen loszukommen?
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Große Übergänge runterbrechen: Statt „Wir fahren los“ lieber: „Wir packen jetzt noch zwei Dinge in den Rucksack – und dann entscheiden wir, ob du vorne oder hinten sitzen magst.“
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Übergangsrituale einführen: Ein Lied, ein Handschlag, ein doppelter Sprung auf dem Weg. Klingt albern – aber gibt dem System Halt.
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Zeitfenster statt Zeitpunkte: „Irgendwann zwischen jetzt und halb elf gehen wir schwimmen.“ Das nimmt Druck raus – und gibt Raum, sich innerlich bereit zu fühlen.
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Entscheidungsräume geben: „Willst du jetzt schon den Rucksack raustragen oder erst in fünf Minuten?“ – klingt minimal, wirkt maximal.
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Mitdenken, dass auch Rückkehr ein Übergang ist: Vom Strand zum Zelt zurück ist oft schwieriger als der Hinweg – weil die Erschöpfung kommt, der Reizpegel hoch ist, und alles, was davor noch funktionierte, plötzlich wegbricht.
Und manchmal… hilft nur eins: Fünfe gerade sein lassen. Wenn mein Sohn unbedingt bei Regen zum Strand will, dann machen wir das eben. Nicht als Trotzreaktion. Sondern als Möglichkeit, ihm Handlungskontrolle zu lassen – bis er selbst merkt, dass es gerade nicht stimmig ist. Dieser kleine Umweg ist oft kürzer als jeder Machtkampf.
Urlaubsplanung mit PDA – Zwischen Freiheit und Sicherheitsbedürfnis
Wir haben gelernt, klassische Urlaube loszulassen.
Kein Ferienhaus mit durchgeplantem Ausflugsprogramm. Keine lange Autofahrt mit Ziel, das auf Google hübsch aussieht. Sondern: Selbstgestaltung. Rückzugsmöglichkeiten. Und ein liebevolles Chaos, das atmen lässt.
Eines unserer schönsten Erlebnisse?
Ein Zelt im Garten. Direkt am Seerosenteich.
Keine lange Anfahrt. Kein fremder Ort. Aber: Lagerfeuer. Sternenhimmel. Freiheit.
Und die Möglichkeit, jederzeit sagen zu können: „Ich geh rein.“ – ohne Drama.
Warum das für uns so wichtig ist:
Neurodivergente Menschen brauchen Vorhersehbarkeit – aber auch die Möglichkeit, flexibel zu bleiben.
Zu wissen: „Ich kann mich rausnehmen“ – ist oft der entscheidende Unterschied zwischen Zusammenbruch und Entspannung.
Vertraute Orte als Anker – Warum ich gern an den gleichen Ort reise
Ich reise gern immer wieder an den gleichen Ort. Gleiche Straße. Gleiches Hotel. Gleiche Aussicht aus dem Fenster. Und das ist nicht, weil ich unkreativ bin – sondern weil ich schneller ankommen kann. Nicht nur körperlich, sondern seelisch.
Wenn ich weiß, wo das Licht angeht, wie die Dusche funktioniert, welche Ecke sich zum Rückzug eignet und wo der beste Kaffee zu finden ist, dann bleibt mir Energie für das, was wirklich zählt: die gemeinsame Zeit. Ich muss keine neuen Abläufe lernen, mich nicht orientieren, keine unausgesprochenen Regeln erfragen. Ich kann einfach sein.
Gerade mit einem PDA-Profil ist diese Vorhersehbarkeit wie ein Sicherheitsgurt fürs Nervensystem. Denn jede neue Umgebung bedeutet auch: neue Anforderungen. Wie funktioniert die Kaffeemaschine? Wer muss zuerst duschen? Wann gibt es Frühstück – und wie peinlich ist es, wenn man es verpasst? Für viele mögen das Kleinigkeiten sein – für mich und mein Kind sind es Minenfelder.
Vertraute Orte hingegen geben Struktur, ohne sie aufzuzwingen. Sie sind wie eine Umarmung, die sagt: „Du kennst das hier. Du kannst dich entspannen.“ Und genau das ist es, was Urlaub für mich ausmacht – nicht das Neue, sondern das Vertraute.
Wiederholung ist dabei keine Flucht vor Abwechslung, sondern eine Einladung zur echten Erholung. Denn erst wenn das Außen ruhig ist, darf das Innen sich ausdehnen. Und nur dann entsteht Raum für Spontanität, für Begegnung, für das, was sich entwickeln darf – ohne dass es geplant war.
Manchmal frage ich mich, warum sich so viele dafür rechtfertigen, gern an denselben Ort zu fahren. Vielleicht ist es an der Zeit, die Wiederholung nicht als Mangel zu sehen – sondern als das, was sie ist: ein Akt der Fürsorge für ein System, das nicht ständig neu kämpfen möchte.
Was uns hilft – Kleine Dinge mit großer Wirkung
Hier ein paar Strategien, die uns wirklich helfen:
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Flexible Struktur statt fester Zeitpläne: Kein Programm. Sondern Optionen. „Möchtest du mitkommen?“ statt „Wir fahren jetzt.“
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Rückzugsräume schaffen: Im Zelt, im Auto, im Ferienhaus – immer ein Ort, wo niemand was will.
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Eigene Verantwortung geben – dosiert: Kleine Aufgaben („Magst du aussuchen, was wir essen?“) statt Dauerverantwortung.
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Rituale einbauen: Zum Beispiel: Jeden Abend Hörspiel. Immer dieselbe Decke. Fester Start- und Endpunkt für den Tag.
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Kopfhörer und Reizfilter nicht vergessen: Für viele von uns unverzichtbar, um nicht schon am Strand überfordert zu sein.
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Humor. Immer. Wenn alles schiefgeht, hilft manchmal ein ehrlicher Lacher mehr als jedes Therapiebuch.
Und: Lass dir nicht einreden, dass das alles unentspannt klingt. Für uns ist es genau das Gegenteil: ein Weg zur Ruhe.
Wenn du selbst PDA hast – Urlaub als Grenzerfahrung
Auch mein Nervensystem trägt ein PDA-Profil – genau wie das meines Sohnes. Und das bedeutet: Auch mein Nervensystem ist feinfühlig, reizoffen und schnell im inneren Alarmzustand. Ich bin durchlässig für Stimmungen, für Erwartungen, für unausgesprochene Forderungen. Und Urlaub – so schön er klingen mag – ist für mich oft eine Sammlung genau dieser Dinge.
Auch ich fühle mich schnell erdrückt von dem, was „man so macht“. Auch ich brauche Rückzug, auch ich will manchmal einfach nicht müssen. Aber als Mutter – besonders als alleinverantwortliche – gibt es kein echtes „Aus“. Ich bin nicht nur für das emotionale Gleichgewicht meiner Kinder zuständig, sondern auch für Struktur, Essen, Zahnbürsten, Schlafplätze, Erklärungen, Lösungen, Trost. Und während ich all das leiste, übersehe ich oft mich selbst.
Der Spagat ist brutal.
Ich plane liebevoll – und verliere dabei das Gefühl, selbst entscheiden zu dürfen.
Ich schaffe Sicherheit – und bin innerlich trotzdem im Fluchtmodus.
Ich will, dass es allen gut geht – und vergesse oft, dass ich dazugehöre.
Manchmal merke ich erst beim Zähneputzen im Zelt, dass ich seit drei Tagen nicht einen Moment allein war. Kein echtes Gespräch geführt habe. Kein Atemzug, der nur mir gehörte. Und dann sitze ich da – inmitten von Campingstühlen, Brotkrümeln, Kinderwitzen – und frage mich: Wann bin ich eigentlich angekommen?
Aber es gibt auch diese anderen Momente.
Wenn wir alle unter der Plane sitzen, der Regen auf das Dach trommelt, und plötzlich Stille einkehrt. Keine Erwartung. Kein Streit. Kein "Was machen wir als Nächstes?"
Nur wir. In unserem kleinen Universum. Und dann atme ich durch.
Dann weiß ich wieder, warum ich das alles mache. Und dass es okay ist, wenn ich zwischendurch selbst ein bisschen verloren gehe – solange ich irgendwann wieder bei mir ankomme.
Fünfe gerade sein lassen – Entspannung braucht Erlaubnis
Urlaub. Ein Wort, das für viele nach Loslassen klingt. Nach Ausatmen. Nach Müßiggang.
Für Menschen mit einem PDA-Profil ist das oft ein Trugschluss.
Denn selbst im Urlaub stehen viele von uns unter innerer Hochspannung – nicht, weil es etwas zu tun gäbe, sondern weil unser System das „Nichtstun“ nicht automatisch als sicher empfindet. Kontrolle, Struktur, ein gewisser innerer Druck – das sind nicht nur Überlebensstrategien, sie sind oft so tief verankert, dass das plötzliche Fehlen von Anforderungen nicht nach Erholung klingt, sondern nach Kontrollverlust.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich nicht entspanne, weil nichts geplant ist – sondern weil ich mir erlaube, dass nichts passieren muss.
Dass ich morgens aufwachen und einfach schauen darf, wie ich mich fühle.
Dass ich nicht jeden Moment „nutzen“ muss, damit er sich lohnt.
Dass auch ein Tag, der in den Sand verläuft, ein Tag zum Leben war.
Diese innere Erlaubnis – nichts leisten zu müssen – ist für viele von uns das eigentliche Lernfeld. Denn so viele von uns wurden geprägt von Mustern wie: „Wenn du schon frei hast, dann mach wenigstens was draus.“ Oder: „Jetzt hab ich mich um alles gekümmert – jetzt hab ich auch mal Anspruch auf Harmonie.“
Aber Entspannung lässt sich nicht erzwingen. Sie entsteht in dem Moment, in dem niemand etwas erwartet – auch ich nicht von mir selbst.
Selbstmitgefühl heißt dann: Ich muss heute nichts schaffen. Ich darf mich leer fühlen. Ich darf nur sein. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne Optimierung. Und das ist vielleicht die tiefste Form von Urlaub – wenn ich nicht nur meine Tasche auspacke, sondern endlich auch den Druck.
Urlaub ist kein Leistungstest
Vielleicht ist das Wichtigste, was ich gelernt habe:
Urlaub muss nicht perfekt sein.
Er muss nicht spektakulär, nicht außergewöhnlich, nicht „besonders“ im klassischen Sinne sein.
Er muss nicht „Instagram-tauglich“ sein. Kein Sonnenuntergang auf Santorini, kein Hochglanz-Abenteuer mit 27 Programmstationen.
Er darf schiefgehen.
Abgebrochen werden.
Ungeplant verlaufen.
Und vor allem: Er darf sich verändern, wenn sich die Bedürfnisse verändern.
Besonders mit PDA-Kindern – oder wenn man selbst betroffen ist – ist Urlaub keine einfache Rechnung. Kein festes Ergebnis nach dem Motto „3 Ausflüge + 1 Eis = schöne Ferien“.
Es ist ein Prozess. Manchmal ein tägliches Austarieren. Und manchmal ein Überlebenstraining mit Lagerfeuer.
Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen:
Urlaub ist keine Bühne. Kein Beweis dafür, wie „normal“, „organisiert“ oder „abenteuerlustig“ wir sind.
Urlaub ist keine Visitenkarte für die Außenwelt.
Sondern ein Raum, in dem wir uns als Familie begegnen dürfen – mit allem, was dazugehört: dem Rückzug, dem Wutanfall, dem Impuls, dem Lachen.
Und manchmal ist schon der Versuch ein Erfolg.
Wenn niemand weint. Wenn jemand doch mit zum Strand kommt. Wenn alle gleichzeitig entspannen – für zehn Minuten.
Das ist nicht weniger wert als ein voller Ausflugskalender. Im Gegenteil: Es ist der Beweis, dass wir hingeschaut, hingespürt und Entscheidungen für uns getroffen haben.
Denn PDA heißt nicht „geht nicht“.
PDA heißt: Geht – wenn es anders geht.
Und dieses „anders“ ist kein Mangel. Es ist eine Einladung, neu zu denken. Und neue Wege zu finden, wie echte Verbindung entsteht.
Grenzen der Belastbarkeit – Urlaub bedeutet nicht automatisch Erholung
Es klingt so logisch: Urlaub = Erholung.
Aber für viele neurodivergente Menschen – gerade mit PDA, ADHS oder Autismus – ist diese Gleichung nicht nur falsch, sondern gefährlich.
Denn auch schöne Dinge können zu viel sein.
Auch Freude kann überwältigen.
Auch Abenteuer können erschöpfen.
Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen. Um zu erkennen, dass Erlebnis nicht gleich Entspannung ist – besonders nicht für ein Nervensystem, das sowieso schon im Dauerlauf arbeitet. Oft war ich nach dem Urlaub erschöpfter als vorher, weil jeder Tag gefüllt war mit Eindrücken, Entscheidungen, neuen Situationen.
Und das Schlimmste? Das schlechte Gewissen.
Weil ich dachte: „Das ist doch schön hier – warum fühlt es sich trotzdem so anstrengend an?“
Weil ich Angst hatte, undankbar oder „anstrengend“ zu wirken.
Weil ich nicht gemerkt habe, dass selbst positive Reize Reize bleiben – und mein System nicht zwischen „guten“ und „schlechten“ überfordert unterscheidet.
Heute plane ich anders.
Ich lasse ganz bewusst Tage ohne Ziel.
Ich baue Mini-Pausen ein – nicht erst, wenn der Meltdown droht, sondern vorher.
Ich sage nein zum Sightseeing-Marathon. Und ja zum Liegenbleiben.
Denn Urlaub bedeutet für uns nicht: möglichst viel erleben.
Sondern: möglichst viel spüren dürfen – ohne überzulaufen.
Erholung entsteht da, wo Raum bleibt zwischen den Reizen. Wo ich nicht hetze, sondern atme.
Und ja, manchmal ist das nicht die Sonnenuntergangstour mit 23 Fotos – sondern die stille Stunde im Schatten, in der niemand was will. Auch das ist Urlaub. Vielleicht sogar der echte.
Innere Reizverarbeitung – Was unsichtbar mitschwingt
Es gibt eine Ebene, die beim Thema Urlaub fast nie mitgedacht wird – und trotzdem alles beeinflusst: die innere Reizverarbeitung.
Denn selbst wenn äußerlich alles entspannt aussieht – das Meer rauscht, die Sonne scheint, alle haben frei – läuft im Inneren ein ganz anderes Programm. Besonders bei neurodivergenten Menschen.
Das Gehirn arbeitet wie ein ununterbrochener Scanner – jedes neue Geräusch, jede fremde Geste, jeder unbekannte Ablauf wird überprüft, bewertet, eingeordnet. Das kostet Energie, bevor überhaupt etwas passiert.
Die neue Umgebung bringt unzählige unbekannte Reize mit sich:
neue Geräusche (Zimmertüren im Hotel, andere Stimmen, Verkehr),
neue Gerüche (Waschmittel der Bettwäsche, Essen im Flur, Sonnencreme),
neue Wege (Wo ist der nächste Supermarkt? Wie finde ich die Toilette?),
und vor allem: neue soziale Erwartungen.
Plötzlich ist alles anders – und genau das stresst unser System, oft ohne dass wir es sofort merken. Die Reize werden nicht automatisch gefiltert. Alles kommt gleichzeitig an – laut, ungebremst, unvorbereitet. Und das zehrt.
Selbst, wenn wir gar nichts „machen“, ist der Körper im Dauer-Scan-Modus.
Deshalb ist Reizregulation im Urlaub kein Extra, sondern eine Grundvoraussetzung.
Wir packen nicht nur Kleidung und Zahnbürsten ein, sondern auch:
• Geräuschstopper oder Noise-Cancelling-Kopfhörer
• die eine Kuscheldecke mit dem vertrauten Geruch
• Snacks, die sicher funktionieren, wenn alles andere zu viel ist
• Reizneutralisierer wie Duftsprays oder ein Lieblingsstofftier
• Musik, die beruhigt – oder Hörspiele, die den Übergang begleiten
Diese Dinge stabilisieren. Sie sind wie Anker im Strom der Reize.
Denn Urlaub ist nicht nur ein Tapetenwechsel. Für unser Nervensystem ist er eine Herausforderung – auch wenn er schön ist. Und wer das versteht, kann liebevoll vorsorgen. Nicht alles wird leicht. Aber vieles wird erträglicher – und manchmal sogar richtig schön.
Beziehungsdynamiken im Urlaub – PDA-Familienlogik
Urlaub ist Familienzeit. Und genau das macht ihn für viele neurodivergente Familien so herausfordernd. Denn wo andere sich auf Entschleunigung und Zusammensein freuen, beginnt bei uns oft ein Balanceakt auf dünnem Eis.
In unserer Familie treffen mehrere neurodivergente Profile aufeinander. ADHS, Autismus, Hochsensibilität – und gleich mehrfach das PDA-Profil. Klingt wie eine spannende Mischung? Ist es. Und zwar auf die intensive Art.
Denn wenn ein Familienmitglied mit PDA auf ein anderes trifft, entstehen keine klassischen Konflikte – sondern komplexe Dynamiken.
Beide wollen entscheiden. Beide reagieren empfindlich auf Druck. Beide spüren Erwartungen – und wehren sich dagegen. Nicht aus Trotz, sondern aus einem tiefen Bedürfnis nach Selbstbestimmung.
Was dann passiert, lässt sich kaum mit herkömmlicher Erziehung oder Ratgeberlogik lösen.
Da reicht ein harmloser Satz wie: „Wollen wir jetzt los?“ – und schon fühlen sich beide überrumpelt. Oder sie bestehen plötzlich zeitgleich auf gegensätzliche Dinge – und jede Verhandlung wird zur Falle.
In solchen Momenten braucht es keine härtere Linie, sondern mehr Ko-Regulation.
Nicht: „Ich setze mich jetzt durch.“
Sondern: „Ich halte dich, auch wenn du dich gerade selbst verlierst.“
Es geht darum, Bedürfnisse sichtbar zu machen, ohne sie gegeneinander auszuspielen.
Das heißt konkret:
• Kein „Gewinnen“ in Diskussionen – sondern Rückzug und Re-Regulation ermöglichen
• Keine starren Pläne – sondern Spielraum für spontane Umwege
• Kein „alle müssen mit“ – sondern Optionen, bei denen niemand sich verlieren muss
Das mag unkonventionell klingen. Aber genau so funktioniert echte Verbindung in PDA-Familien: Nicht über Kontrolle, sondern über Vertrauen, Flexibilität und die tiefe Bereitschaft, einander auszuhalten – auch in stürmischen Momenten.
Erfolge feiern, die andere gar nicht sehen
Urlaub ist voll von Momenten, die nach außen unscheinbar wirken – und innen ganze Meilensteine sind.
Wenn du eine neurodivergente Familie hast, dann kennst du sie: Diese kleinen Siege, die kein Mensch bei Instagram postet. Aber die in Wirklichkeit bedeuten, dass du gewachsen bist. Dass ihr es geschafft habt. Dass ihr euch durch etwas durchmanövriert habt, das für andere gar kein Thema ist. Eben unsichtbare Heldentaten.
Ein Frühstück auf der Terrasse – ohne Wutausbruch, ohne Diskussion, ohne Tränen?
Das ist ein Riesenerfolg.
Nicht, weil es perfekt war. Sondern weil es geklappt hat, obwohl so viele Reize, Erwartungen und Unsicherheiten im Raum standen.
Oder ein Abend am Lagerfeuer, bei dem niemand sich gestritten hat, obwohl alle müde waren?
Feier das.
Denn oft ist es genau das, was für uns zählt: „Wir sind nicht ausgerastet.“
„Wir haben miteinander gesprochen.“
„Wir haben trotz Reizoffenheit und PDA-Spannung gemeinsam durchgeatmet.“
Diese Momente sieht niemand auf Bildern.
Aber sie zeigen, wie viel Kraft, Feinfühligkeit und innere Arbeit in eurem Urlaub steckt.
Urlaubserfolge in neurodivergenten Familien lassen sich nicht an Ausflügen, Sehenswürdigkeiten oder Instagram-Posts messen. Sie zeigen sich in der Stimmung, in der Verbindung, in den Blicken, die weicher werden.
In dem Moment, in dem ein Kind sagt: „Das war schön heute.“
Oder ein Erwachsener merkt: „Ich bin nicht zusammengebrochen, obwohl es eng war.“
Es ist Zeit, unsere eigenen Maßstäbe zu setzen.
Nicht vergleichen. Nicht rechtfertigen.
Sondern erkennen, was uns wirklich gelingt – und das feiern. Mit Würde. Mit Stolz. Mit dem Wissen:
Wir haben das geschafft. Auf unsere Art. Und das reicht.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir mehr Verständnis.
Für Familien, deren Kinder eben nicht mit Begeisterung in den Freizeitpark rennen.
Für Eltern, die nicht alles „locker“ sehen können – weil sie genau wissen, wie schnell Überforderung kippen kann.
Für Erwachsene, die selbst PDA haben – und trotzdem alles geben.
Und ich wünsche mir, dass wir alle den Mut haben, unseren eigenen Weg zu gehen.
Ob das nun ein All-Inclusive-Resort ist. Oder ein Gartenzelt mit Taschenlampe.
Kennst du solche Urlaubs-Momente auch? Was hilft dir, wenn Reisen zur Herausforderung wird?
Herzlich,
FliWi
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