THERAPIE. ECHT JETZT. – Folge 3: Was ist Therapie – und was nicht?

Veröffentlicht am 17. August 2025 um 10:00

© 2025 Lisa Widerek · Ein ehrlicher Blick auf Angebote, Missverständnisse und das, was neurodivergente Menschen wirklich brauchen.

 

Zwischen Gefühl und Gedanke

"Und was hilft jetzt wirklich?"

Diese Frage habe ich mir mehr gestellt, als ich zählen kann. Nicht in einem Wutanfall, nicht verzweifelt schreiend – sondern leise, müde, in mir zusammengefallen. Ich saß in Wartezimmern, mit ausgedruckten Listen von Problemen. Ich betrat Räume mit Hoffnung in den Augen und Knoten im Bauch. Und ich verließ sie oft mit dem Gefühl: Irgendwas stimmt mit mir, wenn selbst Therapie mich nicht weiterbringt.

Ich habe mich nicht gegen Hilfe gewehrt – ich habe nur keine gefunden, die mich wirklich gesehen hat.


Was Therapie nicht ist

Viele von uns kommen in Therapie mit Erwartungen, die mehr aus Filmen oder gut gemeinten Ratschlägen stammen als aus realen Erfahrungen. Therapie, so heißt es, sei ein sicherer Raum. Ein Ort der Heilung. Aber das stimmt nur unter bestimmten Bedingungen – und nicht für jede Seele gleich.

Therapie ist kein Allheilmittel. Sie ist nicht automatisch hilfreich, nur weil sie stattfindet. Kein Raum wird durch das bloße Aufstellen einer Liege zu einem Ort der Sicherheit. Für neurodivergente Menschen mit Traumaerfahrungen oder Reizempfindlichkeit kann schon der Geruch des Raumes, der Blick der Therapeutin oder die Art, wie Fragen gestellt werden, überwältigend wirken.

Therapie ist auch keine Belohnung für gute Patient:innen. Sie darf nicht zum Test werden, ob man sich "gut genug" regulieren, ausdrücken oder reflektieren kann. Gerade Menschen mit Autismus oder ADHS maskieren so stark, dass sie im therapeutischen Setting "angepasst" erscheinen – obwohl sie innerlich im Überlebensmodus stecken.

Und Therapie ist kein Ort für Leistungsdruck. Sie sollte kein Wettbewerb sein, wer am besten loslassen oder am klügsten formulieren kann. Doch oft fühlt es sich so an. Und das erschöpft zusätzlich.


Ambulant, stationär, gruppenbasiert – ein unvollständiger Vergleich

Ich war in ambulanter Therapie. In stationärer. In Gruppen. Und in keiner davon habe ich mich vollständig sicher gefühlt. Jede Form hat ihre Potenziale – aber auch ihre Schattenseiten.

Ambulante Therapie ist oft der erste Schritt. Sie bietet Stabilität durch Regelmäßigkeit, erlaubt im besten Fall Vertrauen. Aber sie leidet unter Zeitknappheit, Wartelisten, Diagnosedruck. Für komplexe Themen bleibt selten Raum. Und: Sie ist oft nicht traumasensibel. Es gibt keine Regulation vor dem Termin. Kein Raum danach. Du kommst, funktionierst – und gehst wieder. [Tausend Tabs offen – Leben mit einem anderen Betriebssystem]

Stationäre Therapie klingt wie Rettung – aber für viele neurodivergente Menschen ist sie das Gegenteil. Routinen, Gruppendruck, ständige Reizüberflutung, wenig individuelle Anpassung: Was helfen soll, kann retraumatisieren. Ich erinnere mich an einen Aufenthalt, bei dem ich drei Wochen lang nicht wusste, wie der Tagesablauf funktioniert, weil niemand ihn barrierefrei erklärt hatte. [Kein Zettel, kein Zugang – Wenn Hilfe nur mit Stempel funktioniert]

Gruppentherapie wiederum kann wohltuend sein – wenn man in Resonanz geht. Aber wer ständig soziale Codes entschlüsseln muss, wie bei Autismus, der bleibt oft außen vor. Wer gelernt hat, sich durch Lächeln zu schützen, wird bewundert statt gesehen.

Therapie, wie sie oft stattfindet, ist gemacht für Menschen, die das System verstehen – nicht für die, die am Rand stehen.


Neurodivergenz trifft Normtherapie – Warum viele scheitern

In zu vielen Therapien habe ich versucht, so zu sein, wie ich dachte, dass man sein muss. Ruhig, reflektiert, sprachfähig. Ich habe meine Tränen erklärt, meine Traumata sortiert. Aber innerlich? War da oft nichts als Lärm. Oder Leere.

Das neurodivergente Erleben – insbesondere bei PDA, Autismus und ADHS – passt nicht in klassische Therapiekonzepte.

Viele von uns befinden sich im Dauer-Alarmzustand. Unser Nervensystem ist überfordert, bevor das Gespräch überhaupt beginnt. Der soziale Kontakt allein – Blickkontakt, Small Talk, Fragen beantworten – ist bereits eine Leistung. [Ich fühle. Irgendwas. Irgendwie. – Wenn Emotionen keinen Namen haben]

Wenn man im Freeze ist, kann man nicht reflektieren. Wenn dein Körper glaubt, er sei in Gefahr, ist Selbstanalyse ein Luxus. Polyvagal-Forschung zeigt deutlich: Sicherheit ist kein kognitiver Entschluss, sondern eine körperliche Erfahrung. (Porges, 2011)

Hinzu kommt: Viele Therapeut:innen kennen das PDA-Profil nicht. Sie interpretieren Kontrollvermeidung als Widerstand. Dabei ist sie oft eine panische Reaktion auf implizite Erwartungen. [PDA, starre Systeme und warum Freiheit manchmal anders aussieht, als wir denken]


Was Therapie sein könnte – Eine Einladung zur Umgestaltung

Stell dir einen Raum vor, in dem du nichts erklären musst. In dem du nicht bewertet wirst. In dem du nicht erst „funktionieren“ musst, um ernst genommen zu werden.

Therapie kann ein sicherer Ort sein – aber nur, wenn sie bereit ist, sich zu verändern.

Was es braucht:

  • Traumasensible Haltung: Kein Mensch öffnet sich im Alarmzustand. Sicherheit entsteht durch Kontinuität, Transparenz und das Anerkennen der eigenen Grenzen.

  • Low-Demand-Ansatz: Weniger ist mehr. Manchmal hilft es mehr, einfach da zu sein, als die perfekte Intervention zu wählen.

  • Wahrnehmungsschulung: Therapeut:innen müssen lernen, neurodivergente Reaktionen zu erkennen – und nicht zu pathologisieren.

  • Verbindungsarbeit statt Funktionstraining. Nicht: „Wie kannst du dich besser anpassen?“ Sondern: „Wie kannst du in Verbindung mit dir und anderen treten – auf deine Art?“

[Ich bin nicht zu viel – Ich bin ganz]
[Ich bin kein Bruchstück – ich bin ein Kunstwerk in Schichten]


Fazit: Du bist nicht falsch – vielleicht war nur die Methode nicht richtig

Wenn du das Gefühl hast, in Therapie zu versagen: Vielleicht versagt auch einfach das Konzept, das dich nicht mitgedacht hat. Vielleicht ist dein Stillsein kein Widerstand, sondern ein Symptom. Vielleicht ist dein Rückzug keine Verweigerung, sondern Schutz.

Therapie sollte kein Ort der Bewertung sein – sondern einer der Begegnung.

Wenn du das Gefühl hast, noch nicht die richtige Form gefunden zu haben – gib dich nicht auf. Aber gib auch nicht dir die Schuld. Du brauchst keinen besseren Willen. Du brauchst eine bessere Passung.

Du bist nicht falsch. Vielleicht war die Methode nur falsch für dich.

[Ich glaube dir – Warum dieser Satz für neurodivergente Menschen mehr bedeutet als jede Therapie]
[Zwischen Chaos und Klarheit – Wie mein Gehirn denkt, und warum das okay ist]


Kennst du das Gefühl, nicht in eine Therapie zu passen? Vielleicht hilft dir dieser Text, deine Erfahrungen einzuordnen – oder sogar neue Wege zu finden.

Herzlich,

FliWi


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