THERAPIE. ECHT JETZT – Folge 2: Der Mythos vom Willen – Warum „du bist so stark“ mich nicht stolz macht, sondern einsam

Veröffentlicht am 10. August 2025 um 10:00

© 2025 Lisa Widerek · Eine therapeutische Blogreihe über das, was in uns passiert, wenn wir scheinbar funktionieren – aber innerlich ringen.

 

Zwischen Gefühl und Gedanke

„Du bist so stark.“

Ein Satz, der wie ein Kompliment klingt. Aber für viele von uns wie ein innerer Tritt wirkt.
Ich erinnere mich an einen Moment in der Klinik. Ich saß mit zitternden Händen am Rand meines Bettes, atmete flach, rang mit einem Zusammenbruch, den ich niemandem zeigen wollte. Eine Mitpatientin kam vorbei, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich bewundere dich. Du bist so stark.“

Ich lächelte. Natürlich lächelte ich.

Aber innerlich fühlte ich – nichts.
Oder vielleicht doch: einen Stillstand. Eine Leere. Ein Schweigen, das sich nicht nach Würde, sondern nach Abwesenheit anfühlte. Weil dieser Satz in mir kein Stolz auslöste. Sondern Einsamkeit.


Stärke ist oft kein Mut – sondern Mangel an Optionen

Ich war nicht stark, weil ich es wollte. Ich war stark, weil ich es musste. Weil niemand kam. Weil es keine Hilfe gab, die zu mir passte. Weil ich gelernt hatte, nicht zu zerbrechen – nicht, weil ich heil war, sondern weil ich zusammenhalten musste, was in mir längst bröckelte.

Stärke ist in vielen Fällen kein Ausdruck von Resilienz – sondern ein Zeichen von Überforderung.

Studien zur sogenannten „erlernten Hilflosigkeit“ (Seligman, 1972) zeigen, dass Menschen, die wiederholt erleben, dass ihre Handlungen keine Auswirkung auf ihre Situation haben, irgendwann aufhören, Hilfe zu erwarten. Viele neurodivergente Menschen erleben genau das: Sie versuchen, sich mitzuteilen – werden aber missverstanden, pathologisiert oder ignoriert. Was bleibt, ist ein Verhalten, das aussieht wie Stärke. Dabei ist es oft nur ein Ausdruck innerer Resignation.

„Ich war nicht stark. Ich war allein.“


Wenn der Wille romantisiert wird

Wir leben in einer Gesellschaft, die den Willen zur Leistung glorifiziert. Die sagt: „Wenn du nur willst, kannst du alles schaffen.“
Aber was, wenn dein Körper nicht mehr kann?
Was, wenn dein Nervensystem permanent auf Alarm steht?
Was, wenn dein Wille noch da ist – aber keine Kraft mehr hat?

Neurodivergente Menschen haben oft ein anderes Verhältnis zu Motivation. Studien zu ADHS (u. a. Barkley, 2011) zeigen: Es geht nicht um Faulheit – sondern um eine andere Dopaminregulation. Der Antrieb ist nicht verlässlich, nicht linear. Manche Tage geht alles. Manche Tage nichts.

Und genau hier wird der Satz „Du musst es nur wollen“ toxisch. Weil er Schuld erzeugt. Weil er suggeriert, dass das Problem nicht im System liegt – sondern in uns.

Therapie hilft nicht, wenn man denkt, man müsste nur härter arbeiten.


Funktionieren ≠ Heilen

Viele von uns funktionieren hervorragend. Wir erscheinen pünktlich. Wir führen Gespräche. Wir lächeln. Aber innen tobt ein Sturm. Und Therapie erkennt diesen Sturm oft nicht, weil er leise ist.

„Ich bin so gut im Überleben, dass es aussieht wie Leben.“

Das nennt man Masking. Besonders bei Autist:innen und Menschen mit PDA-Profil ist das Maskieren alltäglich – eine Überlebensstrategie. Hull et al. (2017) beschreiben das in ihrer Forschung als eine Form sozialer Anpassung, die zwar kurzfristig schützt, aber langfristig erschöpft und isoliert.

Das Fatale: Auch in Therapien wird dieses Masking oft nicht erkannt. Klient:innen wirken angepasst, reflektiert, kooperativ – und werden als stabil eingestuft. Dabei ist die Maske oft das Einzige, was noch Halt gibt.

Funktionieren ist keine Heilung. Es ist ein Modus. Und dieser Modus schützt – aber er heilt nicht.


Was ich gebraucht hätte

Ich hätte mir gewünscht, dass jemand mich fragt: „Was brauchst du, um nicht mehr stark sein zu müssen?“
Dass nicht meine Fähigkeit bewundert wird, weiterzumachen – sondern mein Schmerz gesehen wird, wenn ich es nicht mehr kann.

Ich wollte kein Lob. Ich wollte ein Netz.

In einem idealen Therapieraum wäre kein Platz für romantische Stärke-Narrative. Sondern Raum für Zerbrechlichkeit. Für Widerspruch. Für Müdigkeit.

In einem solchen Raum wäre „Du bist stark“ keine Floskel, sondern eine Einladung zur Verwundbarkeit:
„Du musst es nicht allein tragen.“


Zwischen Mut und Erschöpfung

Es ist mutig, sich Hilfe zu holen. Aber es ist noch mutiger, sich einzugestehen, dass man keine Kraft mehr hat.

Ja, ich bin stark. Aber ich bin es leid, stark sein zu müssen.

Manchmal ist die größte Stärke nicht, durchzuhalten – sondern sich zu erlauben, hinzufallen.
Manchmal ist es mutiger, sich helfen zu lassen, als durchzuhalten.
Und manchmal bedeutet Überleben: sich zu zeigen. Trotz Angst.

Sag mir nicht, dass ich stark bin. Frag mich, ob ich noch kann.


Fühlst du dich von diesem Artikel angesprochen? Vielleicht hilft dir der Gedanke, dass deine Stärke nicht in deinem Durchhalten liegt – sondern in deiner Fähigkeit, dich selbst zu spüren. Du darfst schwach sein. Du darfst Hilfe brauchen. Und du musst es nicht immer erklären.

Herzlich,

FliWi


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