© 2025 Lisa Widerek · Eine Artikelreihe über echte Prozesse, falsche Erwartungen und die Sehnsucht, irgendwo ganz zu werden, ohne sich zu verlieren.

Zwischen Hilfe und Hilflosigkeit
"Ich kann nicht aufgeben. Und das macht mich kaputt."
Ein Satz wie ein leiser Schrei. Kein dramatischer, kein lauter. Aber einer, der tief geht. Einer, der in Therapien oft nicht gesagt wird – und trotzdem alles erklärt.
Es ist der Satz von Menschen, die funktionieren, obwohl sie innerlich brennen. Die Hilfe suchen, aber keine gefunden haben, die mehr war als eine Checkliste. Die reden wollen, aber nicht wissen, wie sie beginnen sollen. Die hoffen, dass da jemand ist, der zwischen den Sätzen zuhört.
Und für viele von uns, gerade wenn wir neurodivergent sind, beginnt genau hier das Problem: Therapie ist oft nicht gemacht für Menschen, die anders denken, anders fühlen und anders reagieren. [Tausend Tabs offen – Leben mit einem anderen Betriebssystem](Ein Artikel über paralleles Denken, Reizüberflutung und die Schwierigkeit, kognitive Ordnung in der Therapie herzustellen.)
Therapie ist kein Pflaster
Wenn du mit offenen Wunden in einen Raum kommst, in dem es um Ordnung, Struktur und "Ziele" geht, kann das mehr aufreißen als heilen.
Ich habe Therapien begonnen, in denen ich lernen sollte, "angemessen zu kommunizieren". Aber was ist "angemessen", wenn dein Nervensystem schon bei Raumtemperatur Alarm schlägt? Ich saß in Gruppen, in denen ich als "unkooperativ" galt, weil ich nicht sprechen konnte. Nicht wollte. Konnte.
Therapie ist oft auf Anpassung ausgelegt. Auf Funktion. Auf Symptomreduktion. Aber was, wenn mein "Symptom" mein Schutz ist? Mein Überlebensmechanismus?
Therapie darf kein Ort sein, der Maskierung trainiert. Sie muss ein Ort sein, der Wahrheit aushält. [Ich bin nicht zuviel. Ich bin ganz.](Ein Text über Selbstzweifel und die Angst, anderen zu viel zu sein – und warum man trotzdem ganz ist.)
"Reden hilft" – nicht immer
Viele Therapieansätze setzen auf Sprache. Auf Reflexion. Auf Worte. Aber Worte erreichen nicht jeden Teil von uns.
Wenn dein System chronisch im Alarmzustand ist – fight, flight, freeze, fawn – dann ist da oft kein Zugriff auf Sprache. Kein Zugang zu komplexer Selbstreflexion. Das erklärt auch die Polyvagal-Theorie nach Stephen Porges: Nur wenn unser Nervensystem in einem Zustand sozialer Sicherheit ist, sind wir überhaupt in der Lage zu reflektieren. Alles andere ist Überleben.
Und Überleben ist kein Prozess, bei dem du gut "mitarbeiten" kannst. Es ist ein Zustand, in dem du funktionierst – oder kollabierst. [Gefühle auf Standby: Was passiert, wenn Emotionen Zeit brauchen](Ein Artikel über verzögerte Gefühlsreaktionen und wie sie Therapie beeinflussen.)
Nicht jede Methode hilft jedem Kopf
CBT (Kognitive Verhaltenstherapie) funktioniert für viele Menschen gut. Für mich war sie oft wie eine Fremdsprache.
"Was wäre ein alternativer Gedanke?" "Was spricht gegen Ihre Überzeugung?"
Solche Fragen setzen voraus, dass ich Zugang zu meinem Denken habe. Dass ich überhaupt bei mir bin.
Doch bei Menschen mit ADHS, Autismus oder komplexer PTBS kann dieser Zugang fragmentiert sein. Gedanken laufen gleichzeitig, widersprüchlich, kreisend. Emotionen sind oft nicht im passenden Körperteil verortet. Es ist nicht Uneinsichtigkeit – es ist neurologische Andersartigkeit. [Ich fühle. Irgendwas. Irgendwie.](Ein Text über den erschwerten Zugang zu Gefühlen und ihre Benennbarkeit bei Neurodivergenz.)
Laut Studien (z. B. "Autism and the double empathy problem" nach Damian Milton) entstehen viele Therapieabbrüche bei Autist:innen, weil Therapeut:innen nicht verstehen, dass Kommunikation und Empathie anders funktionieren. Nicht weniger. Anders. [Warum ich Schwierigkeiten habe zu spiegeln – Wenn mein Gehirn nicht automatisch in Gegenrichtung denkt](Ein Artikel über neurodivergente Schwierigkeiten im sozialen Spiegeln und in der nonverbalen Kommunikation.)
Was Therapie sein könnte
Ein Raum, in dem nicht gefragt wird: "Warum haben Sie das gemacht?" Sondern: "Was hat sich in dem Moment richtig angefühlt?"
Ein Ort, an dem nicht kontrolliert wird, wie oft ich erscheine, sondern gesehen wird, warum ich manchmal nicht kann. [Löffeltheorie: Wenn Energie bei Neurodivergenz endlich ist](Ein Erklärtext über die Energiegrenzen neurodivergenter Menschen im Alltag und in der Therapie.)
Ein Kontakt, bei dem nicht meine Wut analysiert wird, sondern meine Ohnmacht. [Ich bin nicht schwierig – ich bin ehrlich.](Ein Plädoyer für die Anerkennung starker Gefühle ohne Pathologisierung.)
Therapie muss nicht sanft sein – aber ehrlich. Und ehrlich heißt manchmal: Ich kann nicht mehr. Und trotzdem bin ich hier. [„Ich glaube dir“ – Warum dieser Satz für neurodivergente Menschen mehr bedeutet als jede Therapie](Ein Text über die heilende Wirkung von Validierung und Vertrauen.)
Zwischen Fortschritt und Rückfall
Therapie ist keine Linie. Kein Geradeaus. Sie ist eine Spirale. Mit Tagen, an denen du denkst: "Ich habe nichts gelernt." Und Tagen, an denen du erkennst: "Ich fühle anders."
Rückfälle sind keine Niederlagen. Sie sind Wiederholungen mit mehr Bewusstsein.
Therapie ist kein Erfolgskurs. Sie ist ein Verstehen von Zusammenhängen. Ein Erspüren von Mustern. Und manchmal ist sie einfach nur: ein Aushalten mit Zeugen. [Vom inneren Zweifeln zum Verstehen: Mein Diagnoseweg.](Ein persönlicher Bericht über den langen Weg zur richtigen Diagnose und ihre Bedeutung für echte Hilfe.)
Hast du dich in diesem Artikel wiedergefunden? Vielleicht hilft dir dieser Text, milder mit dir zu sein, wenn du wieder zweifelst, ob du "therapierbar" bist. Vielleicht bist du nicht falsch. Vielleicht war die Methode es.
Herzlich,
FliWi
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