Der ADHS-Knopf – Warum wir rote Knöpfe einfach drücken müssen

Veröffentlicht am 23. Juli 2025 um 18:00

© 2025 Lisa Widerek · Manchmal wissen wir genau, was wir nicht tun sollten – und tun es trotzdem. Dieser Text erklärt, warum das kein Trotz ist, sondern ein neurobiologischer Reflex.

Zwischen Reiz und Reaktion

Stell dir eine verbotene Tür vor. Rotes Warnschild. Vielleicht steht sogar "Lebensgefahr" drauf. Und dann – da ist er. Der Knopf. Groß. Rot. Mit einem fast magnetischen "Drück mich"-Vibe.

Ich bin zehn Jahre alt, in einer Tropfsteinhöhle, geführt durch dunkle Gänge mit Stalaktiten, die aussehen wie Eiscreme. "Nicht berühren!" steht auf dem Schild. Mein Finger zittert. Ich will doch nicht gegen Regeln verstoßen. Ich will nur wissen, wie es sich anfühlt.

Und heute? Immer noch dasselbe Muster. Bei Stille. Bei Spannung. Bei verbotenen Gedanken. Irgendetwas in mir muss wissen, was passiert.

 


 

Gehirnchemie mit Reizverstärker

ADHS ist kein Mangel an Disziplin – sondern oft ein Mangel an Dopamin. Dieses Neurotransmitter-System steuert unser Belohnungsempfinden, unsere Motivation und unser Dranbleiben. Für Menschen mit ADHS fühlt sich "nicht reagieren" manchmal an wie "nicht atmen" – weil das Nervensystem keine ausreichende Belohnung für das Aushalten von Verzicht registriert.

Der rote Knopf ist nicht einfach nur ein Symbol für Regelbruch. Er ist ein Versprechen auf Dopamin.

Besonders "verbotene" Dinge oder Dinge mit klarer Grenze ("tu es nicht") wirken auf das ADHS-Gehirn wie Glitzer auf einen Raben. Warum? Weil sie klar, reizstark, und emotional aufgeladen sind.

Der Belohnungsaufschub – also das Aushalten von Spannungszuständen ohne sofortige Auflösung – fällt Menschen mit ADHS messbar schwerer (Barkley et al., 2012). Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass das Gehirn in riskanten oder grenzüberschreitenden Situationen kurzfristig mehr Dopamin ausschüttet – was wiederum das Verhalten verstärkt.

 


 

Impulsivität heißt nicht Respektlosigkeit

Viele von uns wurden als "frech", "respektlos" oder "unbelehrbar" abgestempelt. Dabei ist Impulsivität kein Charakterfehler, sondern ein Kontrollverlust. Einer, der in Millisekunden passiert – und sich oft erst nach der Handlung bewusst zeigt.

Zwischen "Ich darf nicht" und "Ich kann nicht widerstehen" liegen Welten.

Für Außenstehende wirkt es vielleicht so, als würden wir Regeln bewusst missachten. In Wahrheit testen wir sie oft, weil unser Gehirn sie nicht spürt, solange sie nicht aktiv relevant sind. Oder weil unser System gerade um jeden Preis Spannung abbauen will.

 


 

Rote Knöpfe, Verbotsschilder & sensorische Tabus

Ob "Nicht drücken!", "Betreten verboten!" oder der Satz "Lass das jetzt bitte" – solche Hinweise sind für viele ADHS- und PDA-Betroffene kein Halteseil, sondern ein Startsignal. Es fühlt sich an wie ein Nervensystem, das plötzlich testet: "Habe ich überhaupt Kontrolle über diese Situation?"

Besonders in Momenten, in denen man sich ohnmächtig, überfordert oder fremdbestimmt fühlt, werden rote Knöpfe zu Kontrollpunkten. PDA – das "Pathological Demand Avoidance"-Profil – verschärft diesen Effekt oft noch, weil es nicht nur um Reizverarbeitung, sondern auch um Autonomie geht.

Regelbruch wird zur Rückeroberung von Selbstwirksamkeit.

 


 

Zwischen Reizung und Regulation

Was hilft, wenn man nicht ständig gegen sich selbst oder andere arbeiten will?

  • Selbstironie statt Selbstbeschimpfung. Ein inneres "Na toll, wieder gedrückt" ist besser als ein "Ich bin unmöglich".

  • Vorweggenommenes Ausprobieren. Sich safe Räume schaffen, wo Impulsivität ausgelebt werden darf: Basteln, Spielen, Kreatives.

  • Erlaubnis zur Neugier. Nicht alles muss unterdrückt werden. Manchmal darf man fragen: "Was wäre, wenn …?", ohne es gleich zu tun.

  • Regelverständnis entmystifizieren. Wenn ich verstehe, warum etwas gilt, ist es leichter, dem zu folgen. Nicht immer – aber öfter.

 


 

Ich bin kein Regelbrecher – ich bin Systemforscherin mit Dopaminmangel

Ich drücke nicht, um zu provozieren. Ich teste, um zu verstehen. Um zu fühlen. Um mich selbst zu spüren in einer Welt voller Regeln, die oft keine Erklärung liefern.

Manche Knöpfe sollte man trotzdem nicht drücken. Aber wenn du es mal tust – sei nicht zu hart mit dir. Vielleicht war es nicht Trotz. Vielleicht war es dein Gehirn auf der Suche nach einem Stückchen Lebendigkeit.

 


 

Kennst du das auch? Diese Momente, in denen dein Finger fast von selbst drückt? Vielleicht hilft dieser Text dir, weniger streng – und gleichzeitig achtsamer – mit deinen Impulsen umzugehen.

Herzlich,

FliWi

 


 

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