© 2025 Lisa Widerek · Wenn Integrität wie Arroganz wirkt

Zwischen Loyalität und Missverständnis
Es gibt diese Sätze, die mir immer wieder begegnen: „Du bist doch auch nicht besser.“ „Jeder lästert doch mal.“ Oder: „So neutral wie du bist, bist du doch verdächtig.“
Ich höre diese Sätze – und mein Nervensystem geht sofort auf 180. Ich fühle mich missverstanden, ungerecht behandelt, angeklagt für etwas, das ich nie getan habe. Denn ich lästere nicht. Ich bewerte nicht vorschnell. Ich urteile nicht über Menschen hinter ihrem Rücken. Und ich weiß: Das macht mich verdächtig. Gerade in einer Gesellschaft, die in Grautönen oft Schwarz oder Weiß sehen will, wirkt mein bewusstes Dazwischen wie ein Affront.
Ich versuche, in solchen Momenten ruhig zu bleiben. Aber innerlich schreit alles in mir: „Warum sieht das niemand?“ Mein Bedürfnis, mich zu erklären, wächst mit jeder Unterstellung. Und doch habe ich gelernt, dass es manchmal klüger ist zu schweigen – und sich stattdessen auf das eigene Wertesystem zu verlassen.
Das stille Urteil: Arroganz durch Klarheit
Wenn ich schweige, denken andere, ich stimme zu. Wenn ich neutral bleibe, glauben manche, ich halte mich für etwas Besseres. Wenn ich mich aus Gruppendynamiken heraushalte, wirke ich schnell wie die Unnahbare, die sich über andere stellt.
Aber die Wahrheit ist: Ich bin nicht arrogant. Ich bin achtsam. Ich weiß, wie Worte verletzen. Wie sie sich verselbstständigen. Wie sie eine Dynamik anfeuern, die nicht mehr zu stoppen ist. Und ich habe für mich entschieden: Ich will kein Teil davon sein.
Ich analysiere – auch mich selbst. Und dabei entdecke ich häufig, dass mein Bedürfnis nach Klarheit, Gerechtigkeit und Differenzierung nicht gegen, sondern für Menschen spricht. Nur ist es nicht das, was sie erwarten. Und deshalb oft unbequem.
In einem Gespräch sagte mir jemand: „Du wirkst immer so überlegen.“ Und ich verstand plötzlich, was sie meinte. Nicht, weil ich mich besser fühle – sondern weil mein innerer Abstand mir erlaubt, Dinge mit kühlem Kopf zu betrachten. Was für mich Schutz ist, wird von außen als Kälte wahrgenommen.
Loyalität ist kein Gruppenzwang
Ich habe in meinem Leben viele Situationen erlebt, in denen Loyalität zur Falle wurde. Menschen, die dachten, ich müsse mich für sie entscheiden. Menschen, die verlangten, ich solle andere meiden, nur weil sie selbst verletzt oder ärgerlich waren. Ich habe diese Entscheidungen nie leichtfertig getroffen.
Für mich ist Loyalität ein Wert, kein Reflex. Ich beobachte, ich prüfe, ich horche in mich hinein. Ich frage mich: Wer ist wirklich für mich da? Wer reflektiert sein Verhalten? Wer handelt fair, wer manipulativ?
Ich entscheide nicht aus Impuls, sondern aus einem komplexen Zusammenspiel aus Beobachtung, Bauchgefühl, Fakten und Intuition. Und ich bleibe – oft länger, als ich sollte. Weil ich sehen will, ob jemand sich ändert, Verantwortung übernimmt, aufrichtig ist.
Warum Menschen lästern – ein psychologischer Blick
Lästern ist ein soziales Werkzeug. In vielen Studien – darunter von McAndrew et al. (2007) und Dunbar (2004) – wird gezeigt, dass Lästern eine evolutionär gewachsene Strategie zur sozialen Orientierung ist. Es hilft Gruppen, sich zu strukturieren, Vertrauen zu bilden, Normen zu festigen. Kurz: Wer lästert, sichert seine Position im sozialen Gefüge.
In neurotypischen Gruppenverläufen bedeutet das: Wer dazugehört, redet mit – auch über andere. Die Ablehnung des Lästerns wird oft als Bedrohung empfunden, als Illoyalität. Denn wer nicht mitmacht, stellt sich automatisch außerhalb der Norm. Und damit in eine potenziell gefährliche Außenseiterrolle.
Neurodivergente Menschen, die emotional anders verarbeiten, erleben das häufig als inneren Widerspruch. Sie sehen die funktionale Seite des Lästerns – und empfinden es trotzdem als falsch. Ihre Integrität gerät in Konflikt mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Das erzeugt Spannung, Isolation – und oft Missverständnisse.
Gerade hochsensible oder strukturdenkende Menschen können nicht „mal eben“ über andere reden. Ihr Gerechtigkeitssinn ist zu stark. Ihre innere Reflexion zu laut. Und ihre Intuition zu wachsam.
Warum ich trotzdem immer wieder zur Zielscheibe werde
Ich habe Menschen verloren, weil sie mir unterstellten, ich hätte über sie gelästert. Weil jemand, der selbst gelästert hatte, sich aus verletztem Stolz an mir rächte. Weil ich mich nicht sofort empörte, wenn jemand emotional wurde.
Ich versuchte zu erklären. Zu beschwichtigen. Fakten zu liefern. Aber oft reicht das nicht. Menschen glauben, was sie glauben wollen. Und wer sich nicht laut positioniert, gilt schnell als Mitläuferin. Oder schlimmer: als Verräterin.
In emotional aufgeladenen Gruppen ist Schweigen verdächtig. Und differenzieren wird als Angriff gewertet. Ich war oft die Projektionsfläche für andere – weil ich sichtbar bin, aber nicht leicht einzuordnen.
Neurodivergente Integrität: Wenn Klarheit anders aussieht
Ich habe ADHS, ein PDA-Profil, bin hochbegabt und extrem strukturiert in meinem Denken. Ich analysiere, bevor ich bewerte. Ich brauche Fakten, keine Impulse. Und das passt selten zur emotionalen Schnelllebigkeit vieler Gruppendynamiken.
Meine Reaktionen sind oft zu spät. Zu überlegt. Zu kontrolliert. Und deshalb gelten sie als unauthentisch. Dabei ist es genau andersherum: Meine Klarheit ist mein Versuch, fair zu sein. Wahrhaftig. Und damit oft einsam.
Es gibt Studien (z. B. Rajendran & Mitchell, 2007), die belegen, dass Menschen mit Autismus und ADHS häufig alternative Strategien zur sozialen Verarbeitung nutzen – analytisch statt intuitiv, strukturiert statt impulsiv. Das wird missverstanden, obwohl es oft mehr Mitgefühl braucht, komplexe Dynamiken in ihrer Tiefe zu erkennen.
Warum ich bleibe, auch wenn ich verletzt werde
Ich bin loyal, bis zur Erschöpfung. Wenn ich einmal entschieden habe, dass jemand für mich wichtig ist, halte ich fest. Ich erkläre, ich reflektiere, ich warte ab. Ich will verstehen, nicht verurteilen.
Aber ich habe gelernt: Nicht jeder Mensch ist bereit, sich spiegeln zu lassen. Viele fühlen sich durch meine Klarheit enttarnt. Durch meine Neutralität abgewertet. Und das verletzt sie.
Dabei wünsche ich mir eigentlich nur, dass mein Gegenüber sagt: „Ich sehe, wie du es meinst.“ Nicht mehr – aber auch nicht weniger.
Der Unterschied zwischen Integrität und Gefühlsloyalität
Manche Menschen glauben, man müsse sich sofort positionieren, um loyal zu sein. Ich glaube: Echte Loyalität braucht Zeit. Sie wächst aus Beobachtung, aus Gesprächen, aus gemeinsamem Erleben. Sie ist nicht laut, sondern leise. Nicht impulsiv, sondern nachhaltig.
Ich kann jemanden mögen, ohne seine Fehler zu übersehen. Ich kann mit jemandem verbunden sein, ohne alles mitzutragen. Ich kann loyal sein, ohne Partei zu ergreifen.
In einer Welt, in der Reaktion oft über Reflexe läuft, entscheide ich mich bewusst für Reflexion. Das schützt nicht nur mich – sondern manchmal auch die, die mich angreifen.
Wenn Distanz Schutz ist
Ich habe gelernt, mich zu schützen. Wenn mir Lästern begegnet, ziehe ich mich zurück. Nicht, weil ich Angst habe. Sondern weil ich weiß, dass ich nicht gebraucht werde, um Öl ins Feuer zu gießen.
Ich habe gelernt, dass meine Stimme dann am wertvollsten ist, wenn ich sie gezielt einsetze. Und dass meine Integrität manchmal stärker ist, wenn ich schweige.
Mein Schweigen ist keine Ablehnung. Es ist ein stilles Bekenntnis zu etwas Größerem: Zur Hoffnung, dass wir lernen, über Menschen zu reden, wie wir möchten, dass sie über uns reden würden.
Wenn Selbstverwirklichung polarisiert
Ich erinnere mich an eine Diskussion, in der eine Frau wegen ihres Lebensstils heftig verurteilt wurde. Die Stimmen wurden laut, die Vorwürfe schrill – obwohl die meisten sie gar nicht persönlich kannten. Ich dagegen sah etwas anderes: Eine Frau, die einfach versuchte, ihren Weg zu gehen. Ihre Träume zu verwirklichen. Und ja, vielleicht polarisiert sie. Vielleicht passt sie nicht in jede Vorstellung von „richtigem Verhalten“. Aber sie tut niemandem weh. Sie lebt einfach nur anders.
Ich glaube, wir könnten alle lernen, öfter einfach wegzuschauen, wenn uns etwas nicht gefällt – statt zu verurteilen. Denn manchmal ist nicht der Lebensstil das Problem. Sondern unser Bedürfnis, ihn zu bewerten.
Ausblick: Integrität ist ein Muskel
Dieser Text war ein Anfang. Ein Versuch, sichtbar zu machen, was oft unsichtbar bleibt: die stillen Konflikte, die entstehen, wenn Integrität nicht dem Mainstream entspricht. Aber ich weiß: Dieses Thema ist größer.
Deshalb wird daraus eine kleine Serie entstehen. Drei weitere Artikel sind bereits in Planung:
🧭 Integrität in Beziehungen
Wie ich Nähe zulasse, ohne mich selbst zu verraten – und was das mit neurodivergenten Mustern zu tun hat.
🪞 Zu ehrlich für diese Welt?
Warum emotionale Klarheit oft als Kälte missverstanden wird – und was wirklich dahinter steckt.
🔁 Zwischen Anpassung und Aufrichtigkeit
Wie ich gelernt habe, meine Wahrheit zu sagen – auch wenn es bedeutet, unangenehm zu wirken.
Wenn du das Gefühl kennst, zwischen Klarheit und Anschlussfähigkeit zerrieben zu werden, dann bleib dabei. Denn manchmal ist Integrität nicht laut – aber sie bleibt.
Fazit: Ich lästere nicht. Punkt.
Und wenn du mir das nicht glaubst, ist das nicht mein Problem. Sondern vielleicht ein Spiegel für dich.
Denn echte Klarheit braucht kein Publikum. Und keine Bestätigung.
Ich bleibe bei mir. Und bei denen, die das erkennen.
Herzlich, FliWi
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