Löffeltheorie: Wenn Energie bei Neurodivergenz endlich ist

Veröffentlicht am 16. Juli 2025 um 18:00

© Lisa Widerek 2025 · Manchmal reicht es nicht, "eine Pause zu machen". Manchmal ist der letzte Löffel einfach schon weg.

Warum Erschöpfung für uns mehr bedeutet als Müdigkeit

Es gibt Tage, da wache ich auf – und merke schon beim ersten Atemzug:
Heute habe ich kaum Löffel.

Vielleicht hast du von der Löffeltheorie (Spoon Theory) schon gehört.
Sie wurde ursprünglich von Christine Miserandino geprägt, um zu erklären, wie es ist, mit chronischer Krankheit zu leben. Aber für Menschen mit Neurodivergenz – mit Autismus, ADHS, PDA-Profil, Hochsensibilität oder Trauma – ist sie genauso lebensnah.

Ein Löffel steht für Energie.
Und während neurotypische Menschen scheinbar einen unendlichen Vorrat haben, beginnt unser Tag manchmal mit fünf. Oder drei. Oder gar keinem.


Persönliche Einblicke: Wenn schon das Haarekämmen zu viel ist

Ich kenne diese Tage gut.
Tage, an denen schon das Haarekämmen meine letzten Löffel kostet.

Duschen wird dann zur unüberwindbaren Herausforderung.
Seit meine Haare pink sind, nutze ich sogar das schnellere Auswaschen der Farbe als Alibi, um seltener Haare zu waschen – weil jeder Waschgang so viel Kraft raubt.

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich versuchte, alles perfekt zu machen:
Zwei kleine Kinder, Selbständigkeit, ein großes Haus, ein Auto, ein Garten.
Ich wollte die perfekte Mutter sein. Die perfekte Ehefrau. Die perfekte Unternehmerin.

Bis ich nur noch unter Strom stand.
Bis ich Fehler über Fehler machte.
Bis der komplette Zusammenbruch kam.

Ich verschwand tagelang im Bett. Und lernte Polnisch.
Nicht, weil ich ehrgeizig war.
Sondern, weil Lernen Dopamin freisetzte.
Und ich irgendetwas brauchte, um emotional zu überleben.


Warum Neurodivergente schneller an ihre Grenzen kommen

Viele neurodivergente Menschen haben ein Nervensystem, das permanent auf Hochtouren läuft:

  • ADHS bringt ständige Impulsverarbeitung und eine Reizoffenheit, die Energie kostet.

  • Autismus bedeutet oft Dauer-Scanning: Wer erwartet was? Wie muss ich reagieren?

  • PDA-Profile erleben jede Anforderung als inneren Druck – selbst alltägliche Aufgaben können Bedrohung auslösen.

  • Hochsensibilität verstärkt jede kleine Stimulation.

  • Traumaerfahrungen programmieren ein ständiges Alarmsystem.

Was für andere selbstverständlich scheint –
ein Meeting, ein Elternabend, ein spontaner Anruf –
wird für uns zum Großprojekt.


Wissenschaftlicher Hintergrund: Warum unsere Tanks anders funktionieren

Das Aufsteigende Retikuläre Aktivierungssystem (ARAS) steuert unsere Wachheit.
Bei vielen neurodivergenten Menschen arbeitet es anders: dauerhaft im Alarmmodus.

Laut der Polyvagal-Theorie (Porges) bleiben viele von uns ständig in einer Art unterschwelliger Kampf- oder Fluchtreaktion.
Folgen:

  • Erhöhter Grundenergieverbrauch

  • Erschwerte Entspannungsfähigkeit

  • Längere Erholungszeiten

Kurz gesagt:
Unser Tank leert sich schneller. Und füllt sich langsamer.


Schüsselmomente: Als ich begriff, dass „zusammenreißen“ nicht hilft

Ich habe gelernt, dass manchmal nicht mal genug Energie da ist, um richtig zu entspannen.
Manchmal laugt mich selbst der Versuch, loszulassen, noch weiter aus.

Vor meinem letzten Burnout habe ich monatelang gewarnt:
„Das geht nicht gut.“
Aber niemand nahm es ernst.

Stattdessen hörte ich:
„Anderen geht’s auch nicht besser.“
„Stell dich nicht so an.“

Und als alles zusammenbrach, war es plötzlich „unverständlich“.

Heute weiß ich:
Ich hätte meine wenigen Löffel nie für Erklärungen verschwenden sollen.


Schutzstrategien: So bewahre ich heute meine letzten Löffel

Es gibt Wege, die eigene Energie besser zu schützen.
Nicht perfekt. Aber besser.

Hier ein paar Strategien, die mir – und vielen anderen – helfen:

  • Energiemanagement-Tagebuch: Jeden Tag notieren, was Energie gibt und was sie raubt.

  • Radikale Priorisierung: An schlechten Tagen nur das Nötigste tun. Alles andere darf warten.

  • Mikropausen: Kleine Atempausen – 1–5 Minuten – bewusst einbauen.

  • Sensorische Erleichterung: Weiche Kleidung, gedämpftes Licht, ruhige Räume bewusst wählen.

  • Dopamin-Quellen nutzen: Lernen, Kreatives, kleine Erfolge gezielt einbauen.

  • Stopp-Sätze: Frühzeitig sagen: „Ich brauche jetzt eine Pause.“ Ohne Rechtfertigung.

  • Strategisches Planen: An guten Tagen Aufgaben bündeln. An schlechten Tagen nichts erzwingen.

Und vor allem:
Das eigene Gefühl ernst nehmen. Nicht das Funktionieren über die Selbstwahrnehmung stellen.


Fazit: Deine Energie ist kostbar – nicht verhandelbar

Wenn du heute nur noch einen Löffel hast –
und ihn für dich selbst brauchst –
dann ist das kein Egoismus.

Es ist Überleben.

Und manchmal auch: Heilung.

Du musst niemandem beweisen, wie leer du bist.
Dein Körper weiß es längst.

Und das reicht.

Herzlich,
FliWi


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